Von dunklen Mächten

30.11.2010
Ein Toter liegt in einer Kleinstadt der argentinischen Provinz Buenos Aires auf dem Hotelbett. Was wirklich passiert ist, bleibt bis zuletzt verborgen und dunkel. Denn der Autor vermeidet es kunstvoll, seine Leser "ins Schwarze" treffen zu lassen.
"Ins Weiße zielen", der Roman des Argentiniers Ricardo Piglia, beginnt wie ein Krimi mit einer Leiche, lässt aber schon bald Fußnoten, Zitate, soziologische, erkenntnistheoretische und andere Reflexionen sowie literarische Bearbeitungen des Geschehens durch eine der Figuren folgen – und bleibt eine stets spannende und dichte Erzählung über die Unmöglichkeit zu erfahren, was eben, gestern oder vor Monaten geschehen ist und warum. "Ins Weiße zielen"? Nun, warum nicht. Es ist nur unmöglich, ins Schwarze zu treffen.

Ein Toter liegt in einer Kleinstadt der argentinischen Provinz Buenos Aires auf dem Hotelbett. Der Puerto-Ricaner Anthony Durán wuchs in den USA auf und war Liebhaber der Belladona-Zwillinge, der schönen und reichen Erbinnen des gelähmten Dorf-Patriarchen. Die Tat scheint sein Freund, ein japanischer Hotelangestellter, aus Geldgier begangen zu haben. Der Staatsanwalt will den Fall abschließen, der mit ihm verfeindete Kommissar verdächtigt jedoch einen Jockey, der sich kurz vor der Verhaftung das Leben nimmt und im Abschiedsbrief den Hotelmord gesteht, ohne die Auftraggeber preiszugeben.

Daraufhin setzt der Staatsanwalt dem depressiven Kommissar so zu, dass sich dieser in eine psychiatrische Anstalt zurückzieht. Ein aus der Hauptstadt angereister, vom Ennui geplagter Journalist übernimmt die Ermittlungen, folgt dem toten Durán im Bett einer der Belladona-Zwillinge nach und stößt auf eine gigantische, vom Staatsanwalt gelenkte Grundstücksspekulation.

Dies verwickelte Geschehen undurchsichtig zu nennen, wäre eine arge Untertreibung. Es wird von einem kühl-eleganten Erzähler mit soziologischer Raffinesse geschildert. Nie verliert er in diesem Breitband-Roman-noir die Contenance. Der Roman ist unaufgeregt, ein müder Fatalismus liegt über dem Geschehen.

Unverkennbar ist die düstere Atmosphäre in der Kleinstadt im Jahr 1971, Allegorie für ein Argentinien unter den Militärdiktaturen vor Pérons zweiter Amtszeit. Die neue Elite, die Spekulanten um den Staatsanwalt, bedienen sich mit dem Mord am "falschen Yankee" und der Beschuldigung des japanischen Hotelangestellten der verbreiteten Fremdenfeindlichkeit, um die alte Elite zu bekämpfen, den gelähmten, dämonischen Dorf-Patriarchen.

Dabei tauchen immer seltsamere Figuren auf: Der gelähmte Dorf-Patriarch hat neben den schönen Zwillingen einen schwer traumatisierten Sohn. Luca lebt in einer Autofabrik, mit der er und sein toter Halbbruder einst den Aufbruch in die Moderne probten. Inzwischen ist die Fabrik bankrott. Auf den Hallenböden schimmeln sumpfig grünlich die von Luca weggeworfenen Mateblätter seines Tees, die Wände sind mit Diagrammen seiner Träume bedeckt. Die einst moderne Fabrik ist das Gehäuse eines irre gewordenen Individualismus und steht der Shopping Mall im Weg, die die Spekulanten planen.

Ricardo Piglia gelingt es in seinem traumwandlerisch stilsicheren Roman (Übersetzung: Carsten Regling), den Leser allerlei aberwitzige Volten glauben zu machen und ihn dabei bis zum letzten Augenblick in jener düsteren Unsicherheit zu halten, die seinen Roman durchzieht wie eine Schicksalsmacht.

Besprochen von Jörg Plath

Ricardo Piglia: Ins Weiße zielen
Wagenbach Verlag, Berlin 2010
252 Seiten,19,90 Euro

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