Von der Wucht historischer Ereignisse

"Ich weiß es noch ganz genau"

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APOLLO 15 1971 Astronaut Jim Irwin salutiert mit der amerikanischen Flagge.
APOLLO 15 1971 Astronaut Jim Irwin salutiert mit der amerikanischen Flagge. © imago/United Archives International
Christoph Stölzl im Gespräch mit Ute Welty · 20.07.2019
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Historische Ereignisse graben sich oft tief im Gedächtnis der Menschen ein. Der Historiker Christoph Stölzl glaubt, dass Menschen "als Lebewesen" die Bedeutung großer Ereignisse "spüren". Die Mondlandung erlebte er selbst im Biergarten.
Welty: "Wo waren Sie, als …", das ist ja eine dieser Lebensfragen. Wo waren Sie denn, als der erste Mann den Mond betrat?
Stölzl: Ich weiß es ganz genau, ich war mit unserer Münchner Clique in einem Biergarten, etwas außerhalb von München, im Würmtal, und mein beinah frisch geborener Sohn im Kindergarten neben mir und ein großer Maßkrug mit Bier vor mir. Und die haben da alle zugehört, alle hatten Radios dabei. Und dann gab es Jubel und die Biergläser wurden aneinander geschlagen – und dann war es das aber auch.
Also wie immer in Bayern war die Welt draußen weit weg und der Mond noch viel weiter weg. Also an irgendeine Ergriffenheit kann ich mich nicht erinnern, nur eben so einen Spaß. Und komischerweise, entweder war es Armstrong oder einer von den anderen, paar Jahre später habe ich den aus der Nähe gesehen, nämlich in einem großen Festzelt auf dem Oktoberfest, als er den bayrischen Defiliermarsch dirigierte und bejubelt wurde.
Welty: Wann und warum wissen wir, da verändert ein Ereignis die Welt und vor allem ihre Ordnung?
Stölzl: Ja, das ist schwierig zu sagen, ob man es in dem Moment schon wirklich weiß, aber vielleicht haben wir als Lebewesen, sozusagen menschliche Tiere, die so auch Ungeschriebenes, Ungedrucktes, Unintellektuelles spüren, haben wir doch ein Gefühl dafür, wenn irgendwas Wirkliches passiert. Also ich kann es gar nicht so genau erklären, aber das Merkwürdige ist ja, dass wir meistens ein paar solcher Ereignisse wirklich besser wissen als irgendwelche Familiendaten. Natürlich, wenn sie einschneidend sind wie Tod oder Geburt, das weiß man auch, aber sonstige Stationen, Staatsexamen, Promotion oder Berufswechsel …
Welty: Hochzeitstage.
Stölzl: Hochzeitstage, na, das vergessen die Männer immer, aber die Frauen vergessen sie nie, entweder im Guten oder im weniger Guten. Aber diese großen historischen Ereignisse kommen natürlich mit einer Wucht, weil dann auch, wenn es passiert ist, natürlich alle Medien voll sind. Also man müsste ja ein Medienverweigerer sein, um nicht überrollt zu werden von dem, was am nächsten Tag kommt.

"Gefangen in dieser globalisierten Kommunikation"

Welty: Braucht es überhaupt diese Möglichkeit der medialen Vermittlung, dass viele dabei sein können?
Stölzl: Wir sind ja irgendwie vor allem mit dem Telegraf, der hat ja zum ersten Mal Nachrichten um die Welt gepustet, Telefon ist ja eigentlich nur ein Telegraf, wo man was hören kann, also seitdem ist man unrettbar globalisiert. Und dass wir jetzt so auch mit Wetter und Klima und den Kriegen auch so globalisiert sind, haben die Leute im 19. Jahrhundert auch schon gemerkt. Es gibt bei Fontane im "Stechlin" eine wunderbare Geschichte, die sitzen um einen Tisch, essen Fisch und reden über Sozialdemokratie, Revolution und Telegraf. Und die alten Adeligen sagen: Wir könnten jetzt dem Kaiser von China telegrafieren, was wir essen, aber das wollen wir doch gar nicht, wir wollen doch unter uns bleiben – sinngemäß zitiert. Aber das ist vorbei. Wir wollen nicht mehr unter uns sein, alle Leute mit ihren Handys pusten dem Kaiser von China hinüber, was sie essen oder was sie gerade tun. Also wir sind vernetzt, was wir Menschen vermutlich immer schon waren, seit gedruckt wird, seit Buschtrommeln was weitersagen, aber jetzt wissen wir es auch, jetzt sehen wir es auch, ziehen das Handy aus der Tasche und sind gefangen in dieser globalisierten Kommunikation.
Welty: Welches Datum hat Sie vor allem geprägt?
Stölzl: Also ich erinnere mich natürlich an den 11. September ganz genau, weil unsere Tochter genau dort, nicht in diesem Haus, aber im Nachbarhaus, am One Liberty Plaza, als Anwältin gearbeitet hat, und ich war mit meiner Frau unterwegs beim Einkaufen irgendwo und sie ruft an und sagt, Papi, Mami, mir geht es gut, ich bin lebendig. Und wir haben dann dumm gefragt, hast du durchgefeiert, habt ihr eine Party, was ist denn los? Dann sagt sie, wisst ihr nicht, was los ist? Guckt mal Fernsehen. Und dann brach das Telefon ab und wir sind sofort nach Hause gefahren, machten auf und sahen dieses Bild, wo gerade das zweite Flugzeug da reinflog. Es war unglaublich. Und danach waren also zwei Tage stumm, das Kind nicht erreichbar. Natürlich hat man wahnsinnig Anteil genommen. Und die mussten auch raus, das Haus daneben, da flogen alle Scheiben raus. Also es war natürlich eine furchtbar aufregende Geschichte. Das hat mich doch am meisten … Noch eine andere Geschichte, soll ich das gleich sagen, was noch mich so interessiert?
Welty: Unbedingt, ich höre fasziniert zu.
Stölzl: Das Zweite, was ich wirklich nie vergesse, ist der August 1968 in Prag. Ich war ja junger Wissenschaftler, arbeitete dort im Archiv, war seit März in Prag und wohnte natürlich immer irgendwie privat, man konnte ja gar nicht da irgendwie eine Wohnung mieten. Und diese alte Hauswirtin, eine alte Dame weckte mich, irgendwie hörte man nur so brumm, brumm, brumm, brumm, brumm, brumm, ganz komisch, irgendwas Merkwürdiges morgens, dann weckt die mich und sagte: Sie sind da. Und dann war das klar, dass diese großen Antonovs ihre Soldaten oder Panzerwagen abluden auf dem Prager Flugplatz. Und ich bin sofort in mein Auto, bin in die Innenstadt gefahren, kam da gerade hin, abenteuerlustig, wie man ist, als da um den Rundfunk herum alles brannte und geschossen wurde, und habe den ganzen Tag dann sozusagen wie ein Schwimmen in diesem Meer der Protestierenden das miterlebt, und zum ersten Mal erlebt, wenn man in einen Hauseingang rennt, weil ein Maschinengewehr rattert. Also meine erste Erfahrung als erwachsener Mensch, ich bin ja noch als Baby im Krieg geboren, aber da hat man keine Erinnerung. Also das ist unvergesslich, was Gewalt ist, was Krieg ist, was tatsächlich Weltgeschichte ist.
Welty: Wenn Sie diese persönliche Erfahrung gemacht haben, inwieweit verändert sich dann später auch der Blick des Historikers, der Sie ja sind?
Stölzl: Also der Historiker weiß, dass man natürlich nur zufällig am Rand irgendwo dabei ist, und man weiß auch, das kann ich mich von Prag erinnern, dass man nicht wirklich Angst hat, man hat kein Gefühl dafür, dass da eine Kugel einen erwischen kann, sondern man rennt eben in so einer Meute mit, irgendwie rennt man mit und quatscht, dann geht das nächste Gewehr und rennt wieder, also man hat kein Gefühl dafür, dass man als Körper bedroht sein könnte. Das ist natürlich harmlos verglichen mit einem wirklichen Krieg, aber das ist schon meine Erfahrung, dass man als geschichtliches Wesen auch gar nichts machen kann, dass man einfach mitschwimmt.

"Endlich wird Geschichte so, wie sie sein soll"

Welty: Was muss denn zusammenkommen, dass so ein Moment, so ein großes Ereignis dieser Moment der kollektiven Erinnerung wird?
Stölzl: Also wenn es ein glückliches Ereignis ist, wie wir den Fall der Mauer doch sehen, also wenn man sagt, da tut sich ein Tor auf, da ist eine Generationensehnsucht erfüllt – das hat man schon im Gefühl. Also ich bin nach Berlin gekommen, immer wieder beruflich, seit den 80er-Jahren, aber endgültig hergezogen mit Familie '87. Und diese Mauer und diese Teilung war natürlich völlig absurd, wenn man aus Bayern kommt, wo die größte Sperre zwischen sich und der Welt die Mautstation ist, und sonst gehst du in die Welt hinaus.
Also dass Menschen da nicht rüber können und gar noch totgeschossen werden. Der letzte Unglückliche, der verunglückte in einem Ballon, der fiel in einen Garten in Zehlendorf und war tot. Das war natürlich absolut unfassbar, dass Menschen sich so was antun. Und als das dann aufging, hatte ich schon das Gefühl: Endlich wird Geschichte so, wie sie sein soll, mit all dem, was man an privater Tragik … Das ist ja alles nicht aus der Welt zu schaffen, Unglück, persönliches. Aber das ist ein nationales, ein Welt-, ein historisches Unglück, ein Fehler, ein Irrweg - wie diese deutsche Teilung - endlich beseitigt war, das war schon ein Riesen-Glücksgefühl und war für mich, ich bin Jahrgang 44, also Kind aus schlechter Zeit, … Und die Zeiten wurden immer besser, vom Fahrrad auf den Omnibus, vom Omnibus ins Auto und vom Starnberger See zum Gardasee und am Schluss nach Amerika, also die Welt wird groß und weit und du darfst mit dabei sein. Und das war der Mauerfall schon, eine Erfüllung dieser Sehnsucht.
Welty: Es gibt diese singulären Ereignisse, es gibt aber auch die schleichenden Prozesse wie die Finanzkrise 2008 beispielsweise, die dann gipfelte im Zusammenbruch von Lehman Brothers. Wie gehen wir damit um?
Stölzl: Also das ist für mich zu abstrakt. Also ich kann das gar nicht mitfühlen.
Welty: Es gab eine konkrete Situation, als die Kanzlerin und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück betonten, die Sparguthaben sind sicher. Da dachte ich, oh, oh, oh.
Stölzl: Ja, komisch, das habe ich auch, aber nicht wirklich realisiert. Ich bin zu naiv wahrscheinlich, dass ich denke, das Geld ist futsch. Also ich kann mich erinnern, ich war auch in Zehlendorf auf der Post, da beim Postautomaten, wo die Leute da standen. Aber es kommt drauf an, wenn man so Kind einer optimistischen Generation ist wie meine, der es immer besser gegangen ist, dann hat man kein Gefühl dafür mehr, dass man wirklich abstürzen könnte. So in den 20er-Jahren, die Leute wussten, es hat schon schrecklich angefangen, 18, 19, kann das gutgehen? Also da bin ich sozusagen immun dagegen und kann ganz schlecht Auskunft geben über Epochenängste.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.