Von der US-Finanzkrise und ihren Folgen

Von Friedrich Thelen |
Das muss man sich einmal ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen: In den USA, dem Kernland des Kapitalismus und des unbedingten Glaubens an die Selbstheilungskräfte des Marktes, feiern die Börsen die Verstaatlichung der US-Hypothekenrisiken. Ach, ist man versucht zu sagen, ganz am Ende, wenn gar nichts mehr geht, gibt es immer noch den braven dummen Steuerzahler, und dessen Geld nimmt der Staat in die Hand, um den Banken, Versicherungen und sonstigen Finanzinstitutionen aus der Klemme zu helfen.
Nicht, das dies falsch verstanden wird. An der Rettung der US-Regierung in Höhe von über 700 Milliarden US-Dollar ist nichts zu kritisieren, außer der Tatsache, dass sie überhaupt stattfinden muss. Und stattfinden muss sie, weil ansonsten wie bei der Weltwirtschaftskrise von 1929 zuerst die Ökonomien in die Knie gehen und anschließend die politischen Systeme zerbrechen. Das hat die Welt schmerzhaft erlebt und fürchtet daher eine Wiederholung wie der Teufel das Weihwasser.

So weit so schlecht. Aber nachdem der Staat als finaler Retter unserer ökonomischen und politischen Systeme in die Bresche gesprungen ist, beginnt nicht zu Unrecht eine scharfe Debatte über Ursachen und Verursacher der Krise. In der ersten Reihe stehen die vielen tausend vor allem amerikanischen Investmentbanker und ihre Finanzhäuser, die an dem riskanten und ruchlosen Spiel exorbitant verdient haben. Und sie können nicht behaupten, ungewarnt ins Desaster gestolpert zu sein. Jürgen Stark, Chefvolkswirt der europäischen Zentralbank und dort ein konsequenter Verteidiger der Marktwirtschaft, mahnte seit über drei Jahren. Es gibt kein perpetuum mobile in der Physik, und in der Ökonomie schon gar nicht, ließ er die Bankenwelt wissen – leider vergeblich. Der Glaube, dass die Multiplizierung der Gewinne ungebremst weitergehen werde, hatte die Financial Community weltweit in rauschhaftes Fieber versetzt. Und wie das bei Räuschen so ist, das Erwachen kommt erst, wenn der Süchtige in der Ausnüchterungszelle gelandet ist.

Wie verblendet ein Teil der handelnden Banker immer noch ist, zeigt, dass die Leerverkäufe von Aktien fröhlich weitergehen. Faktisch bedeutet dies, dass Banken und Finanzinstitutionen munter weiter auf den Niedergang einzelner Unternehmen spekulieren und damit die Krise weiter anheizen. Da musste die amerikanische und die deutsche Regierung diese Praxis am Wochenende erst mal durch ihre jeweiligen Bank-Aufsichtsgremien für mehrere Monate verbieten lassen. Recht hat der Chef der Investmentbank Perella Weinberg Partners, wenn er unverblümt erklärt: "Manche Wall-Street-Häuser sind zu Casinos geworden."

Aber die Verantwortung liegt nicht allein bei den Spielern, auch die Rahmenbedingungen waren entsprechend. Und zwar vor allem in den USA. Seit dem Jahr 2001 hat die US-Notenbank immer neue Milliarden in den Markt gepumpt, um damit der Konjunktur immer neuen Dampf zu machen. Das kam den jeweiligen US-Regierungen von Bill Clinton bis zu George Bush gerade recht. Weil Geld im Überfluss vorhanden war, glaubten aber alle Konsumenten, ein eigenes Häuschen und ein neues Auto gebe es quasi umsonst, blieben doch die Zinsen niedrig und stieg der Werte der Immobilien ununterbrochen.

So etwas nennt man bankentechnisch eine Finanzblase: Es gibt Geld, dem keine entsprechenden Werte gegenüberstehen. Und aus solchen Blasen muss man in einem kontinuierlichen und zeitlich gestreckten Prozess auch sie Luft wieder rauslassen. Das aber gestaltet sich in der Realität schwierig. Denn dazu muss man das zirkulierende Geld, die sogenannte Geldmenge, verringern und die Zinsen anheben. Das aber hat zumeist negative Konsequenzen für die Konjunktur. Und das wiederum schätzen Politiker – insbesondere wenn sie sich in Wahlkämpfen befinden – ganz und gar nicht. Folglich ist der Heilungsprozess mehr als mühsam.

Die derzeit aufgeblähte Geldmenge ist ein großes Problem, mit dem das Weltfinanzsystem auch noch längere Zeit zu kämpfen haben wird. Denn um der bedrohlichen Liquiditätsverknappung zu begegnen, haben alle Finanzminister der Welt von Russland über Europa bis zu den USA, die Märkte mit frischem Geld überschwemmt. Das muss in absehbarer Zeit dem Markt auch wieder entzogen werden, sonst steht die nächste Finanzkrise vor der Tür. Dass die USA mit sagenhaften 700 Milliarden US-Dollar zum Aufkauf der maroden Hypotheken als Feuerlöscher auftreten, entbehrt nicht innerer Gerechtigkeit. Schließlich hat die Krise mit der verantwortungslosen Hypothekenvergabe und Vermarktung in den USA angefangen. Und deshalb weigert sich die deutsche Kanzlerin nicht zu Unrecht, mit deutschem Geld an der Heilung dieser amerikanischen Krankheit mitzuhelfen. Die deutsche Politik hat seit Jahren die angloamerikanische Finanzwelt und die betreffenden Regierungen zu schärferer Kontrolle aufgerufen – leider ohne Erfolg. Aber die US-Aktion ist ja nur die Sofortmaßnahme zur Bewältigung der aktuellen Krise. Jetzt beginnen die grundsätzlichen Aufräumarbeiten. Zwingend muss ein neues, schärferes Regelwerk her, das den Akteuren engere Grenzen setzt. Bei aller berechtigten Wut über die Gier und Rücksichtslosigkeit der Wallstreetbanker und ihrer europäischen Nachahmer, gilt es ebenfalls, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. Zwischen dem strengeren Ordnungsrahmen und der notwendigen größeren Transparenz der Finanzmärkte auf der eine Seite, und den Freiräumen, die ein globales Finanzsystem auf der anderen Seite braucht, muss eine sinnvolle Balance gefunden werden.

Der bisherige Zustand ist jedenfalls unerträglich. Denn selbst amerikanische Wirtschaftsprofessoren, denen man keine sozialistischen Tendenzen unterstellen kann, fühlen sich derzeit an die Juso-Theorie aus den 70er Jahren vom Staatsmonopolkapitalismus kurz Stamokap erinnert. Deren Motto hieß: "Gewinne werden privatisiert und Verluste werden sozialisiert." Oder übersetzt in die heutige Debatte: Eine Krise muss nur groß genug sein, um uns alle ins Chaos zu stürzen, dann eilt der Staat umgehend mit Steuerzahlergeld zur Rettung herbei. Wenn solche Überzeugungen Fuß fassen sollten, und die Gefahr besteht ja gerade nach der letzten Rettungsaktion, wird die rauschhafte Gier weiterregieren. Auch überzeugte Ordnungspolitiker können das nicht wollen.

Dr. Friedrich Thelen, Jahrgang 1941, studierte Rechtswissenschaft, Geschichte und Philosophie. Er ist jetzt als Publizist tätig und war bis vor kurzem Büroleiter Berlin der "Wirtschaftswoche". Er hat langjährige berufliche Erfahrungen im angelsächsischen Raum.