Von der unruhigen Natur des Sehens

Von Jochen Stöckmann · 03.10.2009
Seit 1975 vergibt die Stadt Goslar den Kaiserring an bildende Künstler. Auch - oder vielleicht auch gerade weil der Preis nicht dotiert ist, hat der Ring ein internationales Renommee. Erster Preisträger war der britische Bildhauer Henry Moore, ihm folgten unter anderem Max Ernst, Joseph Beuys, Georg Baselitz, Christo und Jeanne-Claude, 2008 erhielt der Fotograf Andreas Gursky die Auszeichnung. In diesem Jahr nun ist die Jury zum konventionellen Metier der Malerei zurückgekehrt - könnte man meinen. Aber die 1931 in London geborene Bridget Riley überrascht mit Bildern, die Konventionen nicht spektakulär brechen, doch weit hinter sich lassen. Die Britin sieht sich in der Tradition einer Malerei, der es nie auf Unterscheidungen wie figürlich oder abstrakt ankam, sondern auf das Experiment, die Erforschung der Grundlage aller Kunst: das Sehen.
Wie frisch gefallenes Herbstlaub sind grüne Blätter über braunes Papier verstreut - so scheint es. Aber Bridget Rileys Gouache-Studie, das weiß der Kenner, ist natürlich eine abstrakte Komposition, ein ebenso sinnliches wie rational ausgeklügeltes Spiel mit Formen und vor allem Farben. Mit dieser "Op-Art" entdeckte die britische Künstlerin Farbe als ein Mittel nüchterner Konstruktion, in Erinnerung an ihre romantische Kindheit an der Küste von Cornwall:

"Die einfachsten Vergnügen waren lange Spaziergänge - und meine Mutter genoss es, uns herauszufordern: Seht ihr die Farbe dieses Schattens, die Farbe des Meers? Ich lernte das Sehen in der Natur."

"Malen um zu sehen" hat Bridget Riley eine Sammlung ihrer Essays betitelt, erschienen 2001, zu ihrem 70. Geburtstag. Da erfährt der Leser auf kurzweilige Art, dass moderne Bilder einem Betrachter durchaus nichts "sagen" müssen, dass aber schwindelerregenden Kurvenmuster dem Auge Abenteuer bereiten können und selbst ganz regelmäßig angeordnete Farbstreifen das Bewusstsein derart reizen, dass man die "reale", figurative Welt danach ganz anders betrachtet. Um dahin zu kommen, konnte die Künstlerin nicht bei ihren Leisten, bei Stift, Pinsel und Leinwand bleiben.

"Drei Jahre habe ich jeden Tag gezeichnet - und ich mochte das: Zeichnen nach der Natur und Kopieren, insbesondere Arbeiten von Seurat. Da bekam ich durchaus einige Fertigkeit - aber die half mir nicht weiter bei den Problemen, denen ich mich gegenübersah."

Eine dieser Denk- und Seh-"Aufgaben" sieht aus wie ein Schachbrett, dessen Felder zur Mitte hin plötzlich schmaler werden, eine regelrechte Falte bilden. Ein plötzlicher Umschlag in die dritte Dimension, ohne impulsiven Pinselhieb oder gar ein Zerschlitzen der Leinwand:

"Seit 1961 beschäftige ich Assistenten, die die Farbe auftragen: um meine persönliche Handschrift auszuschalten, um die Arbeit zu objektivieren, sie besser zu beurteilen."

Das hört sich nach strengster Konzeptkunst an, aber wenn Bridget Riley in ihr Atelier geht, um - wie sie betont - zu "arbeiten", dann beginnen ungeplante Entdeckungsreisen:

"Mein ganzes Bemühen gilt einer spekulativen Suche, festgelegte Ziele behindern solch eine Untersuchung. Man muss in der Lage sein, den Ergebnissen zu folgen: Nur so gibt mir jedes Bild einige neue Informationen, bringt mich einen Schritt weiter."

Vor den Kopf gestoßen mag sich dagegen der Besucher der kleinen Retrospektive für die diesjährige Kaiserringträgerin im Goslarer Mönchehausmuseum fühlen: Eine frühe Arbeit von 1964 besteht aus schwarzen Punkten, nach unerfindlichen Regeln angeordnet auf weißem Grund - und "White Discs" benannt:

"Ich würde es nicht als Scherz bezeichnen, aber ich nehme den Betrachter ein wenig auf den Arm: Er sieht etwas, das schaut nach schwarzen Scheiben aus. Deshalb guckt er genauer hin - und erkennt, warum der Titel 'Weiße Scheiben' lautet."

Sehen, was man vorher nicht wusste - das ist das einfach, aber unerschöpfliche Geheimnis der Bridget Riley.

"Ich traue keiner Theorie: Wer bereits weiß, wo er ankommen will, kann seinen Gedanken keinen freien Lauf lassen."