Von der Steinzeit bis in die Gegenwart

Von Edelgard Abenstein · 26.10.2005
In eiligem Parcours durchschreitet Karen Armstrong die Geschichte der Menschheit im Verlauf der letzten 20.000 Jahre, von der Steinzeit, der Mythologie der Jäger und der Bauern, über die frühen Hochkulturen bis in die Gegenwart. Da kein Mythos nur in einer orthodoxen Version existiert, zeigt sie, wie bei den großen historischen Umbrüchen auch jedes Mal die mythologischen Erzählungen überarbeitet wurden, so dass sie den neuen Bedingungen entsprachen.
Hunde grübeln nicht über das Hundedasein, soweit wir wissen, sie versuchen nicht, ihr Leben aus dem Blickwinkel eines anderen zu betrachten oder sich der Endlichkeit allen Tuns zu stellen. Wir hingegen geraten leicht in Verzweiflung, und so haben wir von Anfang an Geschichten erfunden, die unser Leben in einen größeren Zusammenhang stellen und uns das Gefühl vermitteln, dass es trotz aller niederdrückenden Belege des Gegenteils Sinn und Wert habe.

Schon in den Gräbern der Neandertaler entdeckten Archäologen Waffen, Werkzeuge und Tierknochen - Hinweise auf einen Glauben an eine jenseitige Welt, die der ihren ähnlich war. Und, so die Vermutung, sie erzählten sich Geschichten über das Leben, das ihr verstorbener Gefährte nun führte, stellten sich also vor, dass die sichtbare materielle Welt nicht die einzige Realität sei. Es war die Macht der Phantasie, die der Alltagserfahrung trotzte, nur aus einem einzigen Grund: Um sie ertragen zu können und mit der misslichen menschlichen Lage fertig zu werden.

Dies, so die englische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong, sei die Geburtsstunde des Mythos. Erwachsen aus dem größten Skandal des menschlichen Lebens, der Erfahrung des Todes, trösten die Mythen, aber sie zwingen uns auch, vom Vertrauten Abschied zu nehmen, um Neuland zu betreten und ein anderer zu werden. Sie geben uns Rituale an die Hand, Leitfäden, wie das Leben richtig zu führen sei, und sie handeln von Unbekanntem, von Göttern, Helden und von Dingen, die sich nicht erklären lassen, die Liebe etwa, Zorn und sexuelle Leidenschaft. Kurzum: Mythen helfen uns, das Universum zu verstehen.

In eiligem Parcours durchschreitet Karen Armstrong die Geschichte der Menschheit im Verlauf der letzten 20 000 Jahre, von der Steinzeit, der Mythologie der Jäger und der Bauern, über die frühen Hochkulturen bis in die Gegenwart. Da kein Mythos nur in einer orthodoxen Version existiert, zeigt sie, wie bei den großen historischen Umbrüchen auch jedes Mal die mythologischen Erzählungen überarbeitet wurden, so dass sie den neuen Bedingungen entsprachen. Sie erzählt von den Schöpfungsmythen der Sumerer und wie die Ägypter diese an ihre Lebensform angepasst haben, aus welch dunklen Vorzeiten der Griechen strahlendster Held Herakles stammt und wie im Gilgamesch-Epos ihre Majestät, das Ich, geboren wurde.

Karen Armstrong hat mit ihrer Geschichte des Mythos nicht nur ein Panorama menschlicher Erfindungskraft nachgezeichnet. Sie hat eine Apologie des Mythos geschrieben. Mit Leidenschaft stellt sie ihn immer wieder als eine Frühform der Psychologie dar: Die Geschichten der Götter und Helden, die in die Unterwelt hinabstiegen, Labyrinthe durchquerten und mit Ungeheuern kämpften, brachten die mysteriösen Vorgänge der Psyche ans Licht und zeigten den Menschen, wie Krisen zu bestehen seien. Umso beklagenswerter scheint ihr die Entwicklung der Neuzeit - die Moderne, das Kind des Logos - die den Mythos entzaubert habe. Spätestens seit Adorno/Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" mag dem niemand mehr widersprechen. Wenn sie als Preis für den Eintritt ins Zeitalter der Vernunft allerdings charakterliche Schwächen wie Luthers Jähzorn oder Calvins Depressionen ausmacht, so scheint das bei aller Kritik am Rationalismus etwas überzogen.

Karen Armstrong, geboren 1945, war sieben Jahre lang katholische Nonne, bevor sie 1969 ihren Orden verließ und nach Oxford ging. Sie verfasste zahlreiche Bücher zu den wichtigsten Weltreligionen. In ihrem vor zwei Jahren erschienenen und nunmehr in 30 Sprachen übersetzten Buch "Im Kampf für Gott" diagnostizierte sie den Fundamentalismus in den drei monotheistischen Religionen als eine Angstreaktion gegen die moderne säkulare Welt. Sie verknüpfte damit den Appell an das säkulare Bewusstsein, Mythen und Rituale des Glaubens wieder in seinen Horizont aufzunehmen. Ähnlich in der Kurzen Geschichte des Mythos: hier naht die Rettung durch die Kunst. Wenn ein Bild, eine Symphonie, ein Roman die Welt mit anderen Augen sehen lässt, dann ist auch dies eine Art von Initiation, ein Übergangsritus. Irgendwie tröstlich, aber letztlich nichts Neues.

Schließlich wissen wir schon seit der Romantik, dass die Kunst die schönsten Altäre baut. In diesem Falle allerdings darf man gespannt sein: Karen Armstrongs Buch bildet den Auftakt für ein weltumspannendes Projekt. 33 internationale Verlage haben sich versammelt und ebenso viele renommierte Autoren, um uralte Mythen neu zu erzählen. Ein schönes Spiel rund um den Erdball - mit Schriftstellern als ‘global players‘.

Karen Armstrong, Eine kurze Geschichte des Mythos. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Berlin-Verlag, 2005. 143 Seiten. 16 Euro.