Von der Spaltung zur Einheit

Von Kirsten Westhuis |
Aus protestantischer Sicht ist die Reliquienverehrung befremdlich. Luther hat dagegen gewettert. Jetzt gibt es aber eine Annäherung: Bei der diesjährigen Heilig Rock Wallfahrt in Trier ist die Ökumene ein besonderer Schwerpunkt, denn der Rock soll ein Symbol für die Einheit der Christen sein.
Durch die schmalen Gassen der Altstadt strömen Menschen auf den Domplatz in Trier. Überall stehen freiwillige Helfer in knallroten Jacken und schleusen die Pilger durch ein großes weißes Zelt in die Warteschlange vor dem Haupteingang. Bunt bemalte Pilgerstäbe aus Holz säumen die Absperrgitter, gelb-weiße Fahnen flattern im Wind. Wenige Meter daneben verteilen einige Demonstranten Flugblätter gegen sexuellen Missbrauch und halten stumm ihr Transparent in die Höhe.

Die Pilger kommen aus dem Bistum Trier und aus anderen deutschen Diözesen und Pfarreien; zwischen ihnen sind Luxemburger, Belgier, Italiener, sogar Amerikaner. Alle wollen einen Blick auf die berühmteste Reliquie Triers werfen: den Heiligen Rock.

„Ich war schon 1959 als Vierjährige an der Hand meiner Oma und meiner Mutter dabei und 1996 war ich auch dabei, und heute wollte ich einfach mal zu Fuß hingehen, denn wenn er noch mal gezeigt wird, weiß ich nicht, wie alt ich bin und wann das sein wird.“

„Tochter hat Nachwuchs bekommen und ich dachte, wenn die gesund zur Welt gekommen und meine Tochter alles in Ordnung ist, dann mach ich den Pilgerweg nach Trier als kleines Dankeschön und fertig.“

„Ich bin 1959 das erste Mal mit einem Opa hier gewesen, 1996 war ich mit meinem Sohn hier und heute zu dritten Mal aus Überzeugung, weil ich bin ganz kurzfristig schwer erkrankt und deswegen bin ich heute zu dieser Wallfahrt aufgebrochen.“

Im Dom bewegt sich die Schlange der Pilger langsam, aber stetig voran, begleitet von leisem Orgelspiel oder Fürbitten, die ehrenamtliche Helfer vortragen.

An dem abgerundeten Schrein aus Zedernholz in der Mitte der Kirche halten die meisten Pilger kurz inne, einige verneigen sich, machen eine Kniebeuge oder ein Kreuzzeichen, viele berühren das Holz. Durch das Sicherheitsglas ist der ausgebreitete Rock zu sehen: ein braunes Gewebe in der Form eines ziemlich großen T-Shirts. Der alte Stoff wirkt zerbrechlich und porös.

„Das war schon etwas ganz Besonderes für mich, ich war sehr gespannt, und sehr beeindruckt.“

„Für mich war das ganz besonders, weil ich glaube, dass die heilige Muttergottes diesen Heiligen Rock gemacht hat.“

„Es ist ja in Zweifel, ob es das Gewand von Jesus Christus ist, aber ich bin der Meinung, es ist das Gewand von Jesus, ich glaube daran.“

„Das kann man glauben, muss man ja nicht. Wir pilgern ja nicht zum Heiligen Rock, zu diesem Stück Stoff, sondern wir pilgern zu Christus und dieses Stück Stoff ist für uns ein Symbol für Christus.“

Tatsächlich gebe es keine zeitgenössischen, schriftlichen Quellen, welche die Echtheit der Reliquie bestätigen könnten, sagt Wallfahrtsleiter Georg Bätzing. Er betont, dass es sich um Überlieferungen und Legenden handele und um eine Trierer Tradition des Glaubens. Aber das stehe nicht im Mittelpunkt der Wallfahrt, so Bätzing:

„Hier geht's nicht um eine Reliquie, auch Katholiken beten kein Tuch an, sondern verehren den, der das Tuch getragen hat. Und in der Gestaltung dieser Wallfahrt als echte zeitgenössische Wallfahrt haben wir in Trier viel Wert darauf gelegt, dass das überall deutlich wird: Der Gegenstand dieser Wallfahrt und die Mitte dieser Wallfahrt ist die Person und die Botschaft Jesu.“

Das war nicht immer so. In den vorangegangenen Jahrhunderten war die Wallfahrt geprägt von den jeweiligen kirchenpolitischen Zusammenhängen. Vor genau 500 Jahren wurde der Rock zum ersten Mal öffentlich ausgestellt – nur wenige Jahre, bevor Martin Luther seine Thesen veröffentlichte.

Die Gläubigen strömten in Scharen zur Reliquie; getrieben von ganz unterschiedlichen Motiven, Versprechungen und Hoffnungen – und deswegen betrachteten die Reformatoren das Wallfahren und die Reliquienverehrung so besonders kritisch, sagt Andreas Mühling, Professor für evangelische Kirchengeschichte an der Uni Trier:

„Weil nämlich die Reformatoren insgesamt das, was in der Theologie Werkgerechtigkeit genannt wird vermuteten und zudem, das ist dann der zweite Punkt deutliches Anzeichen magischen Denkens bei den betroffenen Christinnen und Christen vermutet haben."“

Erlass der Sündenschuld als Gegenleistung für fromme Werke, wie eben die Wallfahrt – mit diesem Denken machten die Reformatoren Schluss. Und Luther oder Zwingli wussten auch genau um die gar nicht so frommen Motive ihrer Schäfchen: die gingen nämlich auch auf Wallfahrt, weil die Ernte besser werden sollte; damit dem gehassten Nachbarn etwas Schlechtes geschehe oder um andere, ähnlich profane Anliegen loszuwerden, beschreibt Mühling:

„Das ist das, was eben mit magischem Denken gemeint wird: ich habe ein Handwerk, eine Gebrauchsanweisung, ich befolge diese Gebrauchsanweisung, und wenn ich das richtig gemacht habe, kann ich ziemlich sicher sein, so dieses Denken, dass das entsprechende Ergebnis so sein wird.“

Im Zusammenhang mit der aktuellen Heilig Rock Wallfahrt wird häufig Martin Luther zitiert: Vom „Teufelsmarkt“ und der „Bescheißerei zu Trier“ soll er damals gesprochen haben. Aber, so Kirchenhistoriker Mühling, die Reformatoren lehnten das Wallfahren nicht grundsätzlich ab:

„Also Wallfahrten sind nach Luther überhaupt nicht böse, sondern ein Ärgernis, weil sie einen falschen Wahn und auch Unverständnis göttlicher Gebote herbeiführen, aber wenn dieser Werkgerechtigkeitscharakter und wenn diese vorhandenen magischen Erwartungshaltungen einfach nicht da sind, können wir in der Tat über Wallfahrten noch mal reden und das auch schon im 16. Jahrhundert.“

Im 19. Jahrhundert gab es ein neues Aufblühen der Wallfahrt. 1810 wurden 220 000 Pilger gezählt, 1844 mehr als eine Million Menschen. Das war der besonderen politischen Situation im Rheinland geschuldet, erläutern Mühling und Bätzing:

Mühling: „Dass ab 1815 die katholische Mehrheit im Rheinland zu einer Minderheit wird im gesamtpreußischen Staat. Also es ist eine recht ungute spannungs- und konfliktreiche Gemengelage, die sich da zusammenbraut.“

Bätzing: „Und da wurde eine Heilig Rock Wallfahrt auch genutzt als Manifestation katholischer Stärke in einem preußisch dominierten Staat, sicher etwas was nicht wirklich an den Kern dieser Wallfahrt rührte und den Kern zu sprechen brachte.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich der Charakter der Wallfahrt ganz deutlich, der Begriff der Christuswallfahrt wurde eingeführt:

Bätzing: „Wir haben sicher seit der Wallfahrt von 1959 gelernt, uns zu konzentrieren auf die Aussage, die die Reliquie selber enthält, auf deren Symbolkraft, und das ist nun mal der Aspekt der Einheit und der Aspekt Christus in der Mitte.“

Ein Verständnis der Wallfahrt, das auch evangelische Christen durchaus nachvollziehen könnten, sagt der protestantische Theologe Mühling – wenn jeder Einzelne persönlich davon überzeugt sei, dass Werkgerechtigkeit, magisches Denken und politische Instrumentalisierung heute keine Rolle mehr spielen sollten.

„Und führe zusammen, was getrennt ist“ – das Motto der diesjährigen Wallfahrt stammt aus dem Wallfahrtsgebet von 1959. Damals gab es noch keine ökumenische Zusammenarbeit, aber erste Kontakte entstanden. Heute sind evangelische und orthodoxe Christen aktiv an der Wallfahrt beteiligt. Vorab fand ein Internationales Ökumenisches Forum statt und unter anderem gibt es täglich eine Zehn-Minuten-Andacht in der evangelischen Konstantinbasilika.

Viel Ökumene im Programm – und auch einige protestantische Christinnen und Christen unter den Wallfahrern – wenn auch mit geteilter Meinung:

Umfrage Protestanten:

„Ich finde es toll und ich finde auch die Stimmung ist toll, ich empfinde es als Miteinander, obwohl ich mit der Reliquie an sich nicht viel anfangen kann.“

„Das brauche ich nicht, ich bin Christus auch so sehr nahe, und da kann ich auch in den Wald gehen und beten dann bin ich ihm so nah, da brauche ich nichts anderes.“

„Ich halte es mit Luther, der gesagt hat: Größte Bescheißerei, das hat er schon vor 500 Jahren gesagt und das ist heute immer noch so.“

Wenn wir das Gemeinsame betonen wollen, ist das eine gute Gelegenheit. Christus steht hier im Mittelpunkt, also gerade wenn man das Motto ernst nimmt „führe zusammen was getrennt ist“ und den Rock als Sinnbild für Einheit, das ist schon ein starkes Zeichen.

Zur Homepage Heilig-Rock-Wallfahrt 2012 in Trier
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