Von der Sehnsucht nach Gemeinschaft
Vier Millionen Pilger und 200 Staats- und Regierungschefs versammeln sich in Rom, um von Papst Johannes Paul II. Abschied zu nehmen. - Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho sieht darin eine Art "Welttreffen". In diesem Ritual der Trauer verliere sich der Einzelne durch die Synchronisation und durch die Gleichzeitigkeit des gemeinsames Erlebens in der Masse.
König: Die Masse hat Macht, sagt Canetti, und groß ist die Verlockung, selbst zu einem Teil dieser Macht zu werden, und groß ist die Befürchtung, als Außenstehender sich gegen diese Masse zu stellen. Und nun diese geschätzten vier Millionen Menschen heute in Rom, Thomas Macho, welche Macht hat diese Masse?
Macho: Ich denke, die Macht, die die Masse heute hat, ist sozusagen eine symbolische Macht, mehr als eine reale Macht und die symbolische Macht besteht eben darin, dass diese große Trauermenge, Trauermasse eben auch aus allen Teilen der Welt und aus allen Religionen etwas von dem verkörpert, was Katholizismus einmal bedeutet hat.
König: Thomas Mach ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin, zuletzt erschienen von ihm 2004 "Das zeremonielle Tier. Rituale - Feste - Zeiten zwischen den Zeiten". Dieser Titel klingt, wie zu dem Ereignis jetzt in Rom erdacht. Was ist das, was da in Rom passiert? Ein Ritual? Ein Fest?
Macho: Ich denke, es ist von allem etwas, es ist aber in erster Linie und vor allem zunächst einmal ein großes Ritual und es ist gleichzeitig neben diesem Ritual tatsächlich eine Art von Welttreffen, wie wir es in dieser Form ganz selten erleben. Man muss sich mal vorstellen, was das bedeutet, nicht nur für Millionen Pilger, sondern, ich glaube auch 250 Staatschefs aus aller Welt und alle sozusagen aus der ersten Reihe, die einander nicht einmal bei einem UNO-Gipfel in dieser Konstellation sich so treffen würden.
König: Was hätte Elias Canetti zu diesem Tag der Trauer und zu diesen Trauermassen gesagt?
Macho: Ich vermute, Canetti hätte darauf positiv reagiert und jedenfalls die Thesen, in denen er auf den Katholizismus in "Masse und Macht" Bezug nimmt, vielleicht bestätigt gesehen. In diesem Hauptwerk Canettis schreibt er ja, dass die katholische Kirche unter anderem auch darum eine so langlebige Institution geworden ist, weil sie es immer verstanden habe, der Massenbildung vorzubeugen und für Canetti ist gerade das Ritual, die Langsamkeit des Rituals, die Gelassenheit des Rituals, die Ruhe, die das Ritual ausstrahlt, das wirksamste Mittle gegen die gefährliche Massenbildung, die er analysiert und fürchtet und es kommt noch etwas dazu: Canetti hat, obwohl und auch sehr bewusst als Jude, den Gedanken der Katholizität, des sich mit diesem an alle Menschen wenden, unterschiedslos an alle Menschen wenden, eben stark unterschieden von dem Vorgang der Massenbildung und in diesem Punkt dann auch erklärt, dass es kein Zufall sei, dass die Italiener nie ein richtiges nationales Massensymbol zustande bekommen haben.
König: Ausgerechnet sie, denen man doch eigentlich immer eine ganz simple Form der Massenbildung, nämlich Geselligkeit, unterstellt.
Macho: Ja, wobei die Geselligkeit bei Canetti nicht die bedrohliche Form der Massenbildung ist. Aber seine Idee war eben, dass die Italiener zwischen zwei Roms stehen und heute sozusagen eben, gerade heute wieder, im zweiten Rom angekommen sind, nämlich in dem Rom Petri, von dem er ganz ausdrücklich in dem Kapitel über die Italiener spricht.
König: Vielleicht gehen wir mal in die, wenn ich so sagen darf, Niederrungen dieser Theorie von "Masse und Macht", wo es darum geht, die Prozesse aufzuarbeiten, die da stattfinden. Welche Eigenschaft hat diese Masse von vier Millionen Pilgern und was charakterisiert sie, mit der canettischen Brille?
Macho: Ja, die Eigenschaften dieser Masse, sozusagen, die Synchronisation, der Differenzverlust - also Masse ist für Canetti ein Phänomen von Gleichzeitigkeit. Man kommt in diese merkwürdige Situation - den Text über die Berührungsfurcht haben wir ja gelesen - nicht nur, dass Berührungsfurcht umschlägt, nicht nur, dass eine Art von Gleichheit aller mit allen entsteht, sondern eben auch eine Art von Gleichzeitigkeit. Wir sind sozusagen auch emotional synchronisiert, affektiv synchronisiert. Das ist die Idee von ihm und das kann heute eigentlich nur eine Synchronisation in den Affekten der Anrührung, der Trauer, in den Affekten natürlich auch einer bestimmt Form von kollektiver Euphorie sein. Es ist eine Massenbildung, die er, wie gesagt im Unterschied zu den gefährlichen Massenbildungen, eher positiv bewertet hat.
König: Haben diese Massen in Rom auch Ansätze, gefährlich zu werden?
Macho: Das glaube ich nicht. Ganz im Unterschied zum Fußballspiel, von dem vorhin ja die Rede war, wo immer das Risiko der Eskalation mitgedacht werden muss, haben diese Massen zunächst einmal überhaupt keinen Anlass und sozusagen überhaupt kein Potential, sich in eine gefährliche Masse zu entwickeln. Natürlich gibt es etwas bei Massen, was Canetti auch, vielleicht aber eher am Rande von "Masse und Macht" analysiert hat. Was immer eine Bedrohung bleibt, das ist die Panik und die Massenpanik. Bei vier Millionen Menschen und so viel Prominenz bleibt ein Risiko, von dem ich auch nicht weiß, wie es die italienischen Behörden unter Kontrolle halten werden.
König: Gehen wir mal auf das Schlange stehen ein. Das hat mich ja auch sehr fasziniert, diese Menschen zu sehen, die da zehn, zwölf Stunden Schlange stehen, um dann den verstorbenen Papst wiederum nicht alleine, sondern auch nur innerhalb einer Gruppe für Sekunden, nahe zu sein. Was ist das für ein Massengefühl?
Macho: Ja, ich glaube, dass ist eins, in dem genau jene Gelassenheit und Geduld eingeübt wird, von der Canetti im Zusammenhang mit der Katholizität und dem Widerstand gegen eine gefährliche Massenbildung spricht. Wer Schlange steht, rebelliert ja im Grunde nicht. Man kann sagen, das Schlange stehen, das hat was von der Einübung in eine kollektive Bewegung, die was mit Geduld und mit Ruhe und mit Gelassenheit zu tun hat. Das Schlange stehen, das ist Ausdruck sozusagen einer stillen Form von Revolution. Man stürmt nicht die Barrikaden oder sonst irgendetwas, sondern wartet. Das ist mir damals sehr eindrucksvoll nach dem Umsturz in der Tschechoslowakei erzählt worden: Man wartet bei der Demonstration, sobald die Ampeln rot sind und das hat auch was Positives, weil da bestimmte Eskalationen vermieden werden.
König: Ich will noch mal auf einen Punkt zurückkommen, den Sie vorhin angesprochen haben. Canetti schreibt in "Masse und Macht" auch von der Zähmung der Massen durch die Weltreligion, also die universal auftretende Kirche wünscht sich die Masse als folgsame Herde. Das ist ja auch ein kirchlicher Begriff. Wie stark ist die Kirche derzeit an der Inszenierung der Massen selber beteiligt?
Macho: Sie war, glaube ich, immer auch an Inszenierungen von Massen beteiligt, aber eben nicht von aktuellen Massen. Das Problem in der canettischen Theorie, sie hat das immer unterscheiden müssen und dadurch zwischen dem Kollektiv von einer Milliarde von Katholiken oder Christen auf der Welt und den aktuellen Kollektiven. Eine Milliarde Christen kann per se nicht unmittelbar gefährlich werden. Gefährlich kann eine Masse immer nur werden und da bringt er selbst ja auch das Beispiel der Kreuzzüge, wenn sie aktualisiert wird, zum Beispiel in Bezug auf eine andere, eine feindliche, gegenüberstehende Masse. Wenn das eintritt, was Canetti die Doppelmassenbildung nennt, dass also sozusagen eine Masse sich gegen eine andere Masse richtet, beispielsweise in einem heiligen Krieg.
König: Könnte man sagen, je stärker eine Masse inszeniert wird, desto inniger auch das Gefühl, dass der Einzelne in dieser Masse erlebt?
Macho: Ja, die Inszenierung der Masse ist eben zum Teil, das habe ich vorher noch nicht gesagt, gerade auch in dem Sinne, in dem sie über die Medien geleistet wird, die Herstellung einer virtuellen Masse. Es ist sozusagen ein Aufgehen in einer Masse, dass, wenn wir vor dem Fernseher sitzen und das Gefühl haben, wir schauen - seiner Zeit auch bei dem Begräbnis von Lady Di - wir sind jetzt Teil von so und so viel Millionen in der Welt, eine Welttrauergemeinde, so ist das gleichzeitig natürlich auch eine Affekt, der uns nicht in eine aktuelle Massenbildung hineinführt. Wir können ganz bequem im Wohnzimmer sitzt und uns als Teil dieser Masse fühlen. Das ist natürlich auch ein Erfolgsgeheimnis. Man kann Massenbildungen auf diese Weise ermöglichen, aber gleichzeitig auch prima kontrollieren.
König: Ursache dieser Massenbildung ist das Charisma das Papstes Johannes Paul II.
Macho: Der Papst war ganz gewiss und das ist natürlich das, was die Päpste auch immer waren, so was wie, kann man sagen, auch ein Massensymbol, um diesen canettischen Begriff noch einmal zu verwenden, das heißt, eine Person, die diese Möglichkeit, eines friedfertigen Kollektivs, überzeugend zu verkörpern versucht hat. Es war, man muss sich erinnern, im Mittelalter die Rede vom corpus Christi mysticum für die Kirche aufgekommen und vom Papst hieß es dann, er ist sozusagen der corpus Ecclesie mysticum, das heiß sozusagen, der mystische Leib der Kirche in einer Person.
König: Die Millionenschar der Pilger zum Begräbnis des Papstes gesehen durch die Brille des Buches von Elias Canettis "Masse und Macht", von Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin. Zuletzt von ihm erschienen vom ihm das Buch "Das zeremonielle Tier. Rituale, Fest, Zeiten zwischen den Zeiten". Das buch erschien in der Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens, ein wunderschöner Reihentitel, eine Reihe des Pichler Verlages Wien. Der Originaltext übrigens, masse und Macht von Elias Canetti ist in verschiedensten Ausgaben zu erwerben und masse und Macht gibt es auch als Hörbuch von Canetti selber gelesen und "Masse und Macht" drei CD's erschienen bei Hoffmann und Kampe, kostet 22,90 Euro.
Macho: Ich denke, die Macht, die die Masse heute hat, ist sozusagen eine symbolische Macht, mehr als eine reale Macht und die symbolische Macht besteht eben darin, dass diese große Trauermenge, Trauermasse eben auch aus allen Teilen der Welt und aus allen Religionen etwas von dem verkörpert, was Katholizismus einmal bedeutet hat.
König: Thomas Mach ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin, zuletzt erschienen von ihm 2004 "Das zeremonielle Tier. Rituale - Feste - Zeiten zwischen den Zeiten". Dieser Titel klingt, wie zu dem Ereignis jetzt in Rom erdacht. Was ist das, was da in Rom passiert? Ein Ritual? Ein Fest?
Macho: Ich denke, es ist von allem etwas, es ist aber in erster Linie und vor allem zunächst einmal ein großes Ritual und es ist gleichzeitig neben diesem Ritual tatsächlich eine Art von Welttreffen, wie wir es in dieser Form ganz selten erleben. Man muss sich mal vorstellen, was das bedeutet, nicht nur für Millionen Pilger, sondern, ich glaube auch 250 Staatschefs aus aller Welt und alle sozusagen aus der ersten Reihe, die einander nicht einmal bei einem UNO-Gipfel in dieser Konstellation sich so treffen würden.
König: Was hätte Elias Canetti zu diesem Tag der Trauer und zu diesen Trauermassen gesagt?
Macho: Ich vermute, Canetti hätte darauf positiv reagiert und jedenfalls die Thesen, in denen er auf den Katholizismus in "Masse und Macht" Bezug nimmt, vielleicht bestätigt gesehen. In diesem Hauptwerk Canettis schreibt er ja, dass die katholische Kirche unter anderem auch darum eine so langlebige Institution geworden ist, weil sie es immer verstanden habe, der Massenbildung vorzubeugen und für Canetti ist gerade das Ritual, die Langsamkeit des Rituals, die Gelassenheit des Rituals, die Ruhe, die das Ritual ausstrahlt, das wirksamste Mittle gegen die gefährliche Massenbildung, die er analysiert und fürchtet und es kommt noch etwas dazu: Canetti hat, obwohl und auch sehr bewusst als Jude, den Gedanken der Katholizität, des sich mit diesem an alle Menschen wenden, unterschiedslos an alle Menschen wenden, eben stark unterschieden von dem Vorgang der Massenbildung und in diesem Punkt dann auch erklärt, dass es kein Zufall sei, dass die Italiener nie ein richtiges nationales Massensymbol zustande bekommen haben.
König: Ausgerechnet sie, denen man doch eigentlich immer eine ganz simple Form der Massenbildung, nämlich Geselligkeit, unterstellt.
Macho: Ja, wobei die Geselligkeit bei Canetti nicht die bedrohliche Form der Massenbildung ist. Aber seine Idee war eben, dass die Italiener zwischen zwei Roms stehen und heute sozusagen eben, gerade heute wieder, im zweiten Rom angekommen sind, nämlich in dem Rom Petri, von dem er ganz ausdrücklich in dem Kapitel über die Italiener spricht.
König: Vielleicht gehen wir mal in die, wenn ich so sagen darf, Niederrungen dieser Theorie von "Masse und Macht", wo es darum geht, die Prozesse aufzuarbeiten, die da stattfinden. Welche Eigenschaft hat diese Masse von vier Millionen Pilgern und was charakterisiert sie, mit der canettischen Brille?
Macho: Ja, die Eigenschaften dieser Masse, sozusagen, die Synchronisation, der Differenzverlust - also Masse ist für Canetti ein Phänomen von Gleichzeitigkeit. Man kommt in diese merkwürdige Situation - den Text über die Berührungsfurcht haben wir ja gelesen - nicht nur, dass Berührungsfurcht umschlägt, nicht nur, dass eine Art von Gleichheit aller mit allen entsteht, sondern eben auch eine Art von Gleichzeitigkeit. Wir sind sozusagen auch emotional synchronisiert, affektiv synchronisiert. Das ist die Idee von ihm und das kann heute eigentlich nur eine Synchronisation in den Affekten der Anrührung, der Trauer, in den Affekten natürlich auch einer bestimmt Form von kollektiver Euphorie sein. Es ist eine Massenbildung, die er, wie gesagt im Unterschied zu den gefährlichen Massenbildungen, eher positiv bewertet hat.
König: Haben diese Massen in Rom auch Ansätze, gefährlich zu werden?
Macho: Das glaube ich nicht. Ganz im Unterschied zum Fußballspiel, von dem vorhin ja die Rede war, wo immer das Risiko der Eskalation mitgedacht werden muss, haben diese Massen zunächst einmal überhaupt keinen Anlass und sozusagen überhaupt kein Potential, sich in eine gefährliche Masse zu entwickeln. Natürlich gibt es etwas bei Massen, was Canetti auch, vielleicht aber eher am Rande von "Masse und Macht" analysiert hat. Was immer eine Bedrohung bleibt, das ist die Panik und die Massenpanik. Bei vier Millionen Menschen und so viel Prominenz bleibt ein Risiko, von dem ich auch nicht weiß, wie es die italienischen Behörden unter Kontrolle halten werden.
König: Gehen wir mal auf das Schlange stehen ein. Das hat mich ja auch sehr fasziniert, diese Menschen zu sehen, die da zehn, zwölf Stunden Schlange stehen, um dann den verstorbenen Papst wiederum nicht alleine, sondern auch nur innerhalb einer Gruppe für Sekunden, nahe zu sein. Was ist das für ein Massengefühl?
Macho: Ja, ich glaube, dass ist eins, in dem genau jene Gelassenheit und Geduld eingeübt wird, von der Canetti im Zusammenhang mit der Katholizität und dem Widerstand gegen eine gefährliche Massenbildung spricht. Wer Schlange steht, rebelliert ja im Grunde nicht. Man kann sagen, das Schlange stehen, das hat was von der Einübung in eine kollektive Bewegung, die was mit Geduld und mit Ruhe und mit Gelassenheit zu tun hat. Das Schlange stehen, das ist Ausdruck sozusagen einer stillen Form von Revolution. Man stürmt nicht die Barrikaden oder sonst irgendetwas, sondern wartet. Das ist mir damals sehr eindrucksvoll nach dem Umsturz in der Tschechoslowakei erzählt worden: Man wartet bei der Demonstration, sobald die Ampeln rot sind und das hat auch was Positives, weil da bestimmte Eskalationen vermieden werden.
König: Ich will noch mal auf einen Punkt zurückkommen, den Sie vorhin angesprochen haben. Canetti schreibt in "Masse und Macht" auch von der Zähmung der Massen durch die Weltreligion, also die universal auftretende Kirche wünscht sich die Masse als folgsame Herde. Das ist ja auch ein kirchlicher Begriff. Wie stark ist die Kirche derzeit an der Inszenierung der Massen selber beteiligt?
Macho: Sie war, glaube ich, immer auch an Inszenierungen von Massen beteiligt, aber eben nicht von aktuellen Massen. Das Problem in der canettischen Theorie, sie hat das immer unterscheiden müssen und dadurch zwischen dem Kollektiv von einer Milliarde von Katholiken oder Christen auf der Welt und den aktuellen Kollektiven. Eine Milliarde Christen kann per se nicht unmittelbar gefährlich werden. Gefährlich kann eine Masse immer nur werden und da bringt er selbst ja auch das Beispiel der Kreuzzüge, wenn sie aktualisiert wird, zum Beispiel in Bezug auf eine andere, eine feindliche, gegenüberstehende Masse. Wenn das eintritt, was Canetti die Doppelmassenbildung nennt, dass also sozusagen eine Masse sich gegen eine andere Masse richtet, beispielsweise in einem heiligen Krieg.
König: Könnte man sagen, je stärker eine Masse inszeniert wird, desto inniger auch das Gefühl, dass der Einzelne in dieser Masse erlebt?
Macho: Ja, die Inszenierung der Masse ist eben zum Teil, das habe ich vorher noch nicht gesagt, gerade auch in dem Sinne, in dem sie über die Medien geleistet wird, die Herstellung einer virtuellen Masse. Es ist sozusagen ein Aufgehen in einer Masse, dass, wenn wir vor dem Fernseher sitzen und das Gefühl haben, wir schauen - seiner Zeit auch bei dem Begräbnis von Lady Di - wir sind jetzt Teil von so und so viel Millionen in der Welt, eine Welttrauergemeinde, so ist das gleichzeitig natürlich auch eine Affekt, der uns nicht in eine aktuelle Massenbildung hineinführt. Wir können ganz bequem im Wohnzimmer sitzt und uns als Teil dieser Masse fühlen. Das ist natürlich auch ein Erfolgsgeheimnis. Man kann Massenbildungen auf diese Weise ermöglichen, aber gleichzeitig auch prima kontrollieren.
König: Ursache dieser Massenbildung ist das Charisma das Papstes Johannes Paul II.
Macho: Der Papst war ganz gewiss und das ist natürlich das, was die Päpste auch immer waren, so was wie, kann man sagen, auch ein Massensymbol, um diesen canettischen Begriff noch einmal zu verwenden, das heißt, eine Person, die diese Möglichkeit, eines friedfertigen Kollektivs, überzeugend zu verkörpern versucht hat. Es war, man muss sich erinnern, im Mittelalter die Rede vom corpus Christi mysticum für die Kirche aufgekommen und vom Papst hieß es dann, er ist sozusagen der corpus Ecclesie mysticum, das heiß sozusagen, der mystische Leib der Kirche in einer Person.
König: Die Millionenschar der Pilger zum Begräbnis des Papstes gesehen durch die Brille des Buches von Elias Canettis "Masse und Macht", von Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin. Zuletzt von ihm erschienen vom ihm das Buch "Das zeremonielle Tier. Rituale, Fest, Zeiten zwischen den Zeiten". Das buch erschien in der Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens, ein wunderschöner Reihentitel, eine Reihe des Pichler Verlages Wien. Der Originaltext übrigens, masse und Macht von Elias Canetti ist in verschiedensten Ausgaben zu erwerben und masse und Macht gibt es auch als Hörbuch von Canetti selber gelesen und "Masse und Macht" drei CD's erschienen bei Hoffmann und Kampe, kostet 22,90 Euro.