Von der Revolution überrascht

Von Ulrich Fischer · 07.01.2012
"Marija" taucht im gleichnamigen Stück von Isaak Babel gar nicht auf - sie ist als Soldatin der Roten Armee an der Front. Stattdessen dreht sich alles um ihren verarmten aristokratischen Vater und ihre Schwester. Andrea Breth interpretiert das einfühlsam und intensiv, manchmal ein bisschen bemüht.
Isaak Babel gehört zu den verbrannten Dichtern. Die Nationalsozialisten setzten den russischen Autor auf die Liste der Verfemten - Babel war wegen seiner Geschichten aus der Revolution und dem Bürgerkrieg international erfolgreich und auch in Deutschland populär.

Babel hat auch Dramen geschrieben, jetzt setzt das Düsseldorfer Schauspielhaus "Marija" auf den Spielplan. Das Stück, der erste Teil einer geplanten Trilogie, erschien 1935 und sollte eigentlich in der Sowjetunion uraufgeführt werden - aber es gab Kritik am Text, so dass die schon geplante Inszenierung nicht zu Stande kam, deutliche Zeichen des zunehmenden Stalinismus, dem Babel zum Opfer fiel. "Marija" wurde erst 1964 uraufgeführt - nicht in der Sowjetunion, sondern in Italien, im Piccolo Teatro in Florenz.

Isaak Babels "Marija" spielt 1920 in Petrograd. Thema ist die Lage des Adels nach der russischen Oktoberrevolution. Nikolaj Vassiljewitsch Mikovnin war in der Zarenzeit General. Jetzt hat er all seine Vorrechte verloren. Er haust beengt mit seiner Tochter Ljudmilla, einige Möbel künden von der vergangenen Pracht. Marija, die Titelheldin, ist die zweite, ältere Tochter des Generals. Sie tritt nie auf. Der Zuschauer erfährt über Marija nur, wenn ein Brief von ihr verlesen oder über sie gesprochen wird.

Marija ist die einzige der Familie Mukovnin, die Anschluss an die neue Zeit gefunden hat, sie ist zur Roten Armee gegangen. Marijas Schwester Ljudmilla knüpft ein Verhältnis mit einem zweifelhaften Geschäftemacher an, um sich und den Vater durchzubringen. Der General erscheint angesichts der Not des Alltags, der Kälte und des Hungers hilflos. Er schreibt an einem Geschichtswerk, untersucht das Verhältnis von Offizieren und Soldaten in der Zarenzeit, deckt Grausamkeiten und Verbrechen der Vorgesetzten auf. Der General ist nicht wirklich überzeugt von seiner Arbeit, er wirkt opportunistisch, will sich anpassen.

Mukovnin kränkelt. Als er erfährt, dass Ljudmilla bei einer Ausschweifung verhaftet worden ist, trifft ihn die Nachricht wie ein Schlag. Er erholt sich nicht wieder. Nur die Hoffnung, Marija werde kommen und alles wieder in Ordnung bringen, hält ihn am Leben. Doch Marija geht an die Front. Der General stirbt.

Isaak Babel zeichnet den alten Aristokraten, ganz nach den Regeln des sozialistischen Realismus, als Repräsentanten seiner Klasse. Zum Schluss zieht eine Arbeiterfamilie in die Wohnung des verstorbenen Aristokraten, die Frau ist schwanger - das Paar vertritt die neue Zeit und die Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Welt. Andrea Breth bricht dieses optimistische Bild: Der Mann schlägt brutal seiner Frau ins Gesicht. Die Regisseurin deutet an, was aus den Hoffnungen, die mit der Revolution verbunden waren, geworden ist.

Andrea Breth warnt überdies in ihrer klugen, einfühlsamen Inszenierung eindringlich davor, sich aufs hohe moralische Ross zu setzen. Sie gestaltet das Verhör von Ljudmilla zur Schlüsselszene: Der Untersuchungsbeamte schreit, brüllt. Die Staatsmacht schüchtert ein statt zu helfen. Ihr fehlt alles Verständnis für die Lage der Bürger - angesichts der Kälte und des Hungers. Dagegen kann auch der festeste Charakter wenig ausrichten. Das gesamte 22-köpfige, engagiert spielende Ensemble übernimmt diese Grundlinie der Inszenierung.

Die Regisseurin bemüht um höchstmögliche Intensität. Manchmal ist das des Guten zu viel, das Spiel entgleist und gerät ins Bemühte. Auch einige Ausbrüche klingen allzu schrill, allzu expressionistisch. Andrea Breths genaue Analyse des Stücks hingegen überzeugt, auch das Zusammenspiel, die Vertiefung der Charaktere und die Stimmungen einzelner Bilder. Als ein Brief Marijas dem alten General vorgelesen wird, ist es tiefste Nacht. Offenbar ist der Strom ausgefallen, im Zimmer geben ein paar Kerzen auf prachtvollen Leuchtern der vergangenen Epoche ein schwaches Licht. Die Kerzen brennen nieder und werden bald erlöschen, ein Symbol für die Lebenszeit des Generals - ein starker Kontrast zum Brief Marijas, die voller Vitalität von ihrem Soldatenleben schwärmt.

Andrea Breth legt nahe, dass alle Figuren des Stücks von der Revolution überrascht wurden, keiner hat sie kommen sehen. Die Regisseurin wirft die Frage auf, ob es uns heute nicht genau so geht, ob wir nicht auch vor einem Epochenbruch stehen. Man mag das als übertriebene Skepsis ansehen, aber in ihren stärksten Augenblicken erschüttert die Inszenierung das Sicherheitsgefühl. Übertreibt Andrea Breth? Oder spürt sie mit ihrer Künstlerinnensensibilität Dinge, vor denen wir die Augen verschließen wollen?