Von der Respektsperson zum Prügelknaben der Nation

Zu Gast: Enja Riegel, Reformpädagogin · 28.07.2007
Seit dem Pisa-Schock gelten die Lehrer als die Versager der Nation. Schüler und Eltern sehen sie oft eher als Bedrohung und Hindernis, denn als Partner. Über kaum eine Berufsgruppe werden so viele Witze gemacht, bei kaum einer ist das Sozialprestige derart gesunken. Sie werden als "Ferienmeister" verhöhnt, Gerhard Schröder nannte sie einst "faule Säcke".
Gleichzeitig hat sich die Rolle der Lehrer stark geändert. Längst reicht es nicht mehr, einzelne Fächer zu unterrichten. Lehrersein heute heißt auch: Sozialarbeiter, Psychologe und Erziehungsberater zu sein.

Die Folge: Deutsche Lehrer gehen im Schnitt mit 55 Jahren in den Ruhestand, die Hälfte scheidet wegen psychischer und psychosomatischer Erkrankung aus. Nur 15 Prozent unterrichten bis zum Rentenalter. Immer mehr Lehrer werden von ihren Schülern beleidigt und bedroht. Meldungen von Lehrermobbing im Internet sind nur die Spitze des Eisberges.

Eine Kritikerin dieser Entwicklung ist die Reformpädagogin Enja Riegel. 19 Jahre lang war sie die Direktorin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Mit unermüdlicher Energie und Beharrlichkeit wandelte sie das Gymnasium zu einer der bekanntesten Reform- und Gesamtschulen Deutschlands um, die beim Pisa-Test 2000 mit Abstand die besten Resultate in Deutschland erzielte.

Ein Grundübel sieht Enja Riegel in der Lehrerausbildung, die nicht auf die Realität vorbereite: "Die Lehrer werden an die Universitäten zu Schmalspurwissenschaftlern ausgebildet. Das sind doch Dünnbrettbohrer. Sie bekommen kein Handwerkszeug vermittelt." Das Referendariat drille sie, "das Kunstwerk der Einzelstunde zu zelebrieren" und Probleme mit Schülern durch Selektion zu lösen. "Sie lernen ganz schnell, dass man Schüler auswählen muss, dass man sie gut oder schlecht benoten muss." Das gegliederte Schulsystem, das Kinder zu früh nach ihren Fertigkeiten aussortiere, tue das Übrige.

Ihre Überzeugung: "Lehrersein ist ein sauschwerer aber auch wunderbarer Beruf. Schwer ist: Wenn Sie eine Gruppe vor sich haben von 25, 30 Kindern, da entwickelt sich eine ganz eigene Dynamik, die Kinder probieren aus, wie weit sie gehen können. Da ist man manchmal mehr Dompteur. Man muss auch eine Klasse führen können und führen wollen! Das andere ist, dass Lehrer sich nicht erlauben können, abzuschalten. Sie stehen pausenlos unter Beobachtung. Es ist eben nicht das Fachliche, das haben die meisten drauf. Das Schwierige ist die Erziehung, die Beziehung zu den Kindern herzustellen."

Schulen müssten von Lernfabriken zu Orten der Lebenserfahrung umgewandelt werden. Deshalb hat Enja Riegel bereits in den 90er Jahren an ihrer ehemaligen Schule den 45-MinutenTakt von Schulstunden, das Festhalten an einer strengen Fächereinteilung für die Lehrer abgeschafft und auch ansonsten viele vermeintlich unumstößliche Regeln durchbrochen. Der Erfolg gibt ihr recht: Immer mehr Schulen folgen dem Beispiel der Helene-Lange-Schule, sie wurde von der Unesco zur Modellschule ernannt.

Nur vier Jahre hielt es die rastlose Pädagogin im Ruhestand. Jetzt macht sie wieder Schule: In Wiesbaden entwickelt sie eine Privatschule für Kinder vom Kindergartenalter bis zum Abitur, die sie als eine Art Reformlabor versteht. Im September wird der Kindergarten eröffnet, ab August 2008 werden die ersten Fünftklässler unterrichtet. "Ich habe eine Vision: Dass Schule ein guter Ort ist, an dem Kinder wachsen."

"Welche Lehrer wollen und brauchen wir?" Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9.07 bis 11 Uhr mit der Reformpädagogin Enja Riegel. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800 / 2254 – 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.


Literaturhinweis:
Enja Riegel: Schule kann gelingen – Wie unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004