Von der Realität eingeholte Utopien

16.09.2010
Über 40 Jahre hinweg begleitete Kritiker Werner Spies die Arbeit von Christo und Jeanne-Claude. Die Aufsatzsammlung porträtiert die Entwicklung des Künstlerpaares - ebenso wie die des Kritikers.
"Ich suche die eigenwillige Schönheit des Nichtdauerhaften."
Christo

Auch er hatte einst klein angefangen. In den sechziger Jahren verhüllte Christo Fässer, Möbel und Zeitungsstapel. Doch bereits 1972 gelang ihm gemeinsam mit seiner Partnerin Jeanne-Claude ein spektakuläres Monumentalwerk: "Valley Curtain", ein 400 Meter breiter und mehr als 100 Meter hoher orangefarbener Vorhang mitten in die Bergwelt Colorados gespannt. "Eine handgreifliche Vision, ... eine gigantische Zwecklosigkeit, ... eine Art von Traum", kommentierte damals der Kritiker Werner Spies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Valley Curtain" wurde für ihn zur Initialzündung. Fortan sollte er die Arbeit von Christo und Jeanne-Claude über fast 40 Jahre hinweg begleiten, sollte sie kommentieren und unermüdlich preisen. Bis heute. Davon gibt die nun als Buch erschienene Aufsatzsammlung "Christo und Jeanne-Claude. Grenzverlegung der Utopie" wort- und ideenreich Kunde.

Es sind 14 kleine Essays, Zeitungsartikel, Katalogtexte und Festreden, die der schmale Band versammelt. Spies beschreibt unter anderem die frühen Projekte in den USA, die Verhüllungen des Pont Neuf in Paris und des Reichstags in Berlin oder die Aufstellung der "Gates" im New Yorker Central Park. Dabei lässt er stets den gesamten Entstehungsprozess Revue passieren; von der Planung, über den von Nation zu Nation leicht variierenden, immer aber massiven Widerstand gegen diese "Geldverschwendung" bis zur Realisierung. Nebenbei schildert Spies darüber hinaus Christos biografischen Hintergrund, seine Ausbildung im kommunistischen Bulgarien und die quasi symbiotische Zusammenarbeit mit Jeanne-Claude, der französischen Generalstochter, die Christo in Paris kennen gelernt hatte und die bis zu ihrem Tod im November 2009 die geniale Organisatorin an seiner Seite war.

Faszinierend zu lesen, wie der Autor im Laufe der Zeit sein Vokabular entwickelt. Sucht Spies anfangs noch nach treffenden Umschreibungen für die "Monumente auf Zeit" und deren "kathartische Wirkung", so bringt er bald auf den Punkt, was das Werk von Christo und Jeanne-Claude ausmacht: "ein kaum ertragbarer Hinweis auf Vergänglichkeit" und "die aufrührerische Kraft des Nutzlosen", die es vermochte, "die Beschreibbarkeit und den Pragmatismus der Welt aufzubrechen". Denn, obwohl ihre Aktionen immer nur wenige Tage andauerten und allesamt wieder vollständig verschwanden, mussten Christo und Jeanne-Claude manchmal Jahrzehnte lang um deren Realisierung kämpfen. 24 Jahre Überzeugungsarbeit für Berlin, 26 Jahre für New York. Man hatte es schon fast vergessen. So wie man ihre Arbeiten schon fast für selbstverständlich nahm. Dass sie es ganz und gar nicht waren, wird beim Lesen dieser Artikelsammlung schlagartig deutlich.

Spies zeigt sich in seinen Texten nicht nur als kluger Kommentator, sondern weiß auch mit seiner Begeisterung anzustecken. Es ist ein schönes Buch, mit vielen Abbildungen, leider aber auch mit einigen Redundanzen. Spätestens wenn man zum dritten Mal über viele Zeilen hinweg den wörtlich gleichen Text liest, wünscht man, es hätte eine sorgfältigere Auswahl der Artikel gegeben.

Besprochen von Eva Hepper

Markus Castor (Hg.)
Werner Spies: "Christo und Jeanne-Claude. Grenzverlegung der Utopie"

bup – berlin university press, 2010