Von der Pflicht, seine Frau aus dem Wasser zu ziehen

Beziehungen zwischen Liebenden, Freunden, Eltern und Kindern sind seit jeher der Stoff von Filmen und Romanen. In dem Sammelband "Von Person zu Person: Zur Moralität persönlicher Beziehungen" haben sich Philosophen zu Wort gemeldet, um über Moral, Gerechtigkeit und Liebe zu diskutieren.
Ein moralphilosophisches Gedankenexperiment bildet den Dreh- und Angelpunkt dieses Sammelbandes: Ein Schiff ist untergegangen, und ein Ehemann steht vor der Wahl, entweder seine Frau oder einen Fremden vor dem Ertrinken zu bewahren und in das sichere Rettungsboot zu ziehen.

Das Beispiel ist einfach, aber die Fragen, die sich daraus ergeben, sind kompliziert. Darf der Ehemann sich dafür entscheiden, seine Frau zu retten? Selbstverständlich, sagt unsere Intuition. Die meisten von uns wären sogar empört, täte er es nicht.

Aber warum? Welcher Aspekt der intimen Beziehung zwischen Mann und Frau könnte ein Grund dafür sein, ihr Leben zu retten und nicht das Leben eines anderen, wenn doch alle Menschen gleich viel wert sind?

Das Nachdenken über diese Fragen führt die hier versammelten Philosophen rasch in das Dickicht unserer wichtigsten persönlichen Beziehungen. Vielleicht sollte der Mann seine Frau retten, weil er es möchte oder weil seine Frau das von ihm erwartet. Vielleicht aber auch deshalb, weil seine Frau immer gut zu ihm war oder einfach, weil es eine gemeinsame Geschichte gibt, die die beiden verbindet.

Die Autoren spielen diese möglichen Antworten durch und kommen dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen: Eine solche Entscheidung lässt sich moralisch gar nicht rechtfertigen, sagen die einen. Denkt der Mann darüber nach, ob er seine Frau jetzt retten darf, dann zeigt dies, dass er nicht aus reiner Liebe handelt. Die Philosophen Pauline Kleingeld und Joel Anderson argumentieren hingegen, dass gerade das aufrichtige Bemühen, zu einer gerechten Entscheidung zu kommen, zum Wesen der Liebe gehört.

Viele Aufsätze in diesem Sammelband provozieren. So vertritt Diane Jeske die These, dass erwachsene Kinder ihren Eltern gegenüber nur dann besondere Verpflichtungen haben, wenn die Beziehung freiwillig ist. Und das heißt: Das gegenseitige Verhältnis muss eng und vertrauensvoll sein.

Wäre es anders, verlören wir unsere Autonomie und könnten unser Leben nicht mehr selbstbestimmt formen, argumentiert Jeske. Wie stark ihre These ist, zeigt ein Beispiel: Jahrelang haben sich die Eltern liebevoll um ihr Kind gekümmert. Dann hat sich die Beziehung im Erwachsenenalter abgekühlt, das Vertrauensverhältnis ist dahin. Die Eltern werden älter, krank und hilfsbedürftig, ihr Kind aber hat nun keinerlei besondere Verpflichtung mehr, Ihnen zu helfen.

Wohl kaum etwas ist mit so starken Gefühlen belastet wie unsere Beziehungen zu den Menschen, die uns am nächsten stehen. Unsere Emotionen führen dazu, dass wir starke Intuitionen haben, wenn es um die Frage geht, wozu uns diese Beziehungen verpflichten.

Die Beiträge in diesem Band hinterfragen diese Intuitionen und arbeiten so Schritt für Schritt heraus, was uns wichtig ist: warum Gerechtigkeit ein hoher Wert innerhalb einer Familie ist oder nicht, warum Nachdenken zur Liebe gehört - oder nicht.

Es sind wissenschaftliche Aufsätze, geschrieben im kühlen, analytischen Stil der heutigen Philosophie. Das ist nicht immer leicht zu lesen, aber dafür zeigt sich hier, was Philosophie leisten kann: einen Schritt zurück zu treten, Abstand vom Gewirr unserer Gefühle zu nehmen und zu reflektieren, wie unsere persönlichen Beziehungen unser Leben und unser Selbstverständnis formen.

So wird ein klein wenig klarer, worauf es uns wirklich ankommt, wenn wir von Liebe, Freundschaft und Verpflichtung reden.

Rezensiert von Sibylle Salewski

Axel Honneth / Beate Rössler (Hrsg.): Von Person zu Person: Zur Moralität persönlicher Beziehungen
Suhrkamp 2008
361 Seiten, 13,00 Euro