Von der Melancholie des Abschieds

07.03.2008
Mal schmerzvoll, mal zärtlich, mal im Zorn geschrieben - mit der ihr üblichen Fabulierwut präsentiert Friederike Mayröcker dem Leser ihre Erinnerungsgeschichten. Ihr neues Werk "Paloma" ist ein moderner Briefroman, der es in sich hat: ein Buch, das auch duften und schmecken kann.
Sie lebe ganz bewusst in einem "Poesiereservat", hat Friederike Mayröcker einmal von sich behauptet. Die Fabulierwut, von der sie seit fast sieben Jahrzehnten geschüttelt wird, ist der Tatsache geschuldet, dass der "wahre Schriftsteller 1 Mensch ist, der seine Worte nicht findet". Dieser Satz steht in ihrem Roman "brütt oder Die seufzenden Gärten" von 1998. Wie ein Tagebuch strukturiert, geht es darin um die Geschichte einer verwegenen "Kopf- und Körper- und Erinnerungs Exaltation".

Auch Friederike Mayröckers neues Buch "Paloma" gewährt solcherart Einblicke in wüste "Hirngezeiten". Sämtliche Erinnerungsschichten werden dabei in Bewegung versetzt, ändern ihre Position, verkanten sich schmerzvoll und drängen sich oft unangemessen auf. Die Zeiten geraten durcheinander, neben dem Kind im weißen Sommerkleid erscheint ein altersschwaches Ich, das nicht mehr die rechte Kraft besitzt, den Tag zu beginnen. In 99 briefartigen Texten, die zwischen Mai 2006 und April 2007 datiert sind und in denen mit einem "lieben Freund" kommuniziert wird, verdichtet sich die ereignisreiche Fülle einer denkenden, schreibenden und liebenden Existenz.

Kein Tag ist ohne den Gang zur Schreibmaschine, ohne die Sturzflut literarisierter Erinnerung und ohne die zärtliche Anrufung dieses DU denkbar. Mit dem Freund kann Mayröckers Hand- und Herzgefährte Ernst Jandl gemeint sein, da die "Angst dasz ich auf IHN vergesse" groß ist. In der Anrede liegt aber auch die Geste einer innigen Vertrautheit in romantischer Manier. Denn "schreiben/weinen ist eine Intimität". Magie entfaltet sich bei jeder schreibenden Bewegung, die Mayröcker vollführt. Und so macht es keinen Unterschied, ob bei einem Telefonat mit Marcel B. "ein Herz Atem" durch Kopf und Brust blitzt, die Suche nach Paul Celans Buch "Atemwende" erfolglos bleibt oder Maria Callas’ Wahnsinnsarien die Traumwelt durchziehen.

"Paloma" bedeutet aus dem Spanischen übersetzt Taube. Mayröckers Buch kann als moderner Briefroman gelesen werden und die Taube hätte eine postalische Bedeutung. Wobei ihre Funktion – ähnlich der Sintfluterzählung – im Versenden poetischer Botschaften besteht, um alte und neue Herzländer zu erkunden. Das weltbekannte Musikstück "La Paloma" symbolisiert aber auch die Melancholie des Abschieds.

Schreiben bedeutet für Friederike Mayröcker nicht nur flanieren, murmeln, hinstreunen, sondern vor allem kommunizieren: mit einem DU, das in Träumen und aus Texten spricht, mit der geliebten Stimme der Mutter, mit Dichterkollegen aus verschiedenen Jahrhunderten. Bei allem wird die harsche Selbstaussprache nicht vergessen. Dass Literatur aber auch duften und schmecken kann, uns nachfolgt und angesichts des gestundeten Daseins zornig macht, beweist dieses Buch.

Rezensiert von Carola Wiemers

Friederike Mayröcker: "Paloma"
Suhrkamp Verlag 2008
199 Seiten, 16,80 Euro