Von der Höhlenmalerei bis zur Atomphysik
Der 1994 verstorbene österreichische Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend war davon überzeugt, dass sich der Übergang in die moderne Welt nicht allein durch den Fortschritt erklären lasse, sondern durch eine veränderte Art des Denkens. Der erste verschollen geglaubte Band der von ihm geplanten Naturphilosophie wurde nun posthum veröffentlicht.
"Eine Welt löst sich auf und wird durch eine andere Welt ersetzt. Was geht dabei vor?" Das ist die Frage, die sich der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend sein Leben lang gestellt hat. Zutiefst war er nämlich davon überzeugt, dass der Übergang von der Welt des vorneuzeitlichen Naturdenkens, zu einer anderen, der Welt der modernen Physik, sich nicht durch den Fortschritt erklären lässt. Wir denken nicht besser als ferne Epochen, wir denken nur anders. Der Mythos ist keine Vorstufe des Logos, sondern eine eigenständige und voll entwickelte Art, die Dinge zu sehen.
In einer auf drei Bände angelegten Naturphilosophie wollte Feyerabend das anhand menschlicher Naturbegriffe von der steinzeitlichen Höhlenmalerei bis zur Atomphysik demonstrieren. Das in den siebziger Jahren in Angriff genommene Vorhaben wurde nicht zu Ende geführt, das Manuskript galt als verschollen. Im Archiv der Universität Konstanz aber wurde vor kurzem sein erster Band gefunden, jetzt liegt er, mit einem guten Vorwort und vielen Illustrationen versehen, vor.
Entgegen vieler Vorurteile über Feyerabend, er sei ein Relativist, ein Feind des methodischen Erkenntnisgewinns, ja ein Spinner gewesen, zeigt er sich hier als jemand mit klaren Argumenten. Das wichtigste davon lautet: Die primitiven Völker waren nicht primitiv. Vielmehr mussten sie sich ohne viel Technik in ihrer Umwelt behaupten. Zu lockeren Fantasien war da wenig Muße, für fahrlässige Irrtümer wenig Spielraum. Man sollte sich den Urmenschen nicht als Träumer vorstellen. Feyerabend zitiert aus vielen Quellen, wie gute Pflanzenzüchter, Astronomen und Navigatoren die Eingeborenen verschiedenste Erdteile waren. Über Stonehenge, die englische Steinsternwarte aus der Zeit 1700 vor Christus, fällt der Satz, dieses Bauwerk sei "himmlische Uhr, Voraussagestation und religiöser Zirkus in einem gewesen".
Nach der Kultur der Steinzeit untersucht Feyerabend das Universum Homers. Hier habe Wissen nicht bedeutet, von den Erscheinungen zum Wesen der Dinge vorzudringen, sondern Kenntnisse aufzuhäufen. Feyerabend nennt die homerische Welt darum ein "Aggregatuniversum", denn für Griechen der homerischen Zeit sei die Welt aus Teilen zusammengesetzt gewesen, war sie keine von homogenen Gesetzen beherrschte Einheit. Diese Eigenschaft findet Feyerabend auch in der frühgriechischen Kunst und in Stilmerkmalen des Epos: In 28000 Zeilen Homers gibt es 25000 Wiederholungen von Versatzstücken, die auch irgendwo anders im Text auftauchen, etwa ein Fünftel aller Verse der Ilias kommt mehr als einmal vor. Und die frühen Griechen kamen ohne einen Begriff von Subjektivität aus. Wo wir übersetzen "Achilles hat einen Traum", meinten sie vielmehr "Ein Traum ist über Achilles gekommen".
Mit anderen Worten: Die frühen Griechen hatten einen anderen Wirklichkeitsbegriff als wir. Vernünftigkeit aber kann nur in Bezug auf einen solchen Begriff definiert werden, nicht absolut und kontextfrei. Feyerabend versucht, das auch am Ein-Substanzenkosmos der Vorsokratiker – "alles besteht aus Wasser" -, an der Bewegungstheorie von Aristoteles und an der mathematischen Behandlung der Natur durch die neuzeitliche Wissenschaft zu zeigen. Vor allem die Beschäftigung mit der philosophischen und der mathematischen Physik fällt naturgemäß knapp aus, dafür waren die beiden anderen Bände des geplanten Werkes reserviert. Seine eigentliche These konnte Feyerabend darum nicht entfalten. Aber weil er sich sowohl in der Naturwissenschaft wie in der Philosophie unglaublich sicher bewegt und weil er ein großer Didaktiker ist, lernt man aus diesem Buch auf jeder Seite etwas. Von wie vielen Büchern kann man das schon sagen?
Rezensiert von Jürgen Kaube
Paul Feyerabend: Naturphilosophie.
Hrsg. Von Helmut Heit und Eric Oberheim,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009,
300 Seiten, geb., 24,80 Euro
In einer auf drei Bände angelegten Naturphilosophie wollte Feyerabend das anhand menschlicher Naturbegriffe von der steinzeitlichen Höhlenmalerei bis zur Atomphysik demonstrieren. Das in den siebziger Jahren in Angriff genommene Vorhaben wurde nicht zu Ende geführt, das Manuskript galt als verschollen. Im Archiv der Universität Konstanz aber wurde vor kurzem sein erster Band gefunden, jetzt liegt er, mit einem guten Vorwort und vielen Illustrationen versehen, vor.
Entgegen vieler Vorurteile über Feyerabend, er sei ein Relativist, ein Feind des methodischen Erkenntnisgewinns, ja ein Spinner gewesen, zeigt er sich hier als jemand mit klaren Argumenten. Das wichtigste davon lautet: Die primitiven Völker waren nicht primitiv. Vielmehr mussten sie sich ohne viel Technik in ihrer Umwelt behaupten. Zu lockeren Fantasien war da wenig Muße, für fahrlässige Irrtümer wenig Spielraum. Man sollte sich den Urmenschen nicht als Träumer vorstellen. Feyerabend zitiert aus vielen Quellen, wie gute Pflanzenzüchter, Astronomen und Navigatoren die Eingeborenen verschiedenste Erdteile waren. Über Stonehenge, die englische Steinsternwarte aus der Zeit 1700 vor Christus, fällt der Satz, dieses Bauwerk sei "himmlische Uhr, Voraussagestation und religiöser Zirkus in einem gewesen".
Nach der Kultur der Steinzeit untersucht Feyerabend das Universum Homers. Hier habe Wissen nicht bedeutet, von den Erscheinungen zum Wesen der Dinge vorzudringen, sondern Kenntnisse aufzuhäufen. Feyerabend nennt die homerische Welt darum ein "Aggregatuniversum", denn für Griechen der homerischen Zeit sei die Welt aus Teilen zusammengesetzt gewesen, war sie keine von homogenen Gesetzen beherrschte Einheit. Diese Eigenschaft findet Feyerabend auch in der frühgriechischen Kunst und in Stilmerkmalen des Epos: In 28000 Zeilen Homers gibt es 25000 Wiederholungen von Versatzstücken, die auch irgendwo anders im Text auftauchen, etwa ein Fünftel aller Verse der Ilias kommt mehr als einmal vor. Und die frühen Griechen kamen ohne einen Begriff von Subjektivität aus. Wo wir übersetzen "Achilles hat einen Traum", meinten sie vielmehr "Ein Traum ist über Achilles gekommen".
Mit anderen Worten: Die frühen Griechen hatten einen anderen Wirklichkeitsbegriff als wir. Vernünftigkeit aber kann nur in Bezug auf einen solchen Begriff definiert werden, nicht absolut und kontextfrei. Feyerabend versucht, das auch am Ein-Substanzenkosmos der Vorsokratiker – "alles besteht aus Wasser" -, an der Bewegungstheorie von Aristoteles und an der mathematischen Behandlung der Natur durch die neuzeitliche Wissenschaft zu zeigen. Vor allem die Beschäftigung mit der philosophischen und der mathematischen Physik fällt naturgemäß knapp aus, dafür waren die beiden anderen Bände des geplanten Werkes reserviert. Seine eigentliche These konnte Feyerabend darum nicht entfalten. Aber weil er sich sowohl in der Naturwissenschaft wie in der Philosophie unglaublich sicher bewegt und weil er ein großer Didaktiker ist, lernt man aus diesem Buch auf jeder Seite etwas. Von wie vielen Büchern kann man das schon sagen?
Rezensiert von Jürgen Kaube
Paul Feyerabend: Naturphilosophie.
Hrsg. Von Helmut Heit und Eric Oberheim,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009,
300 Seiten, geb., 24,80 Euro