Von der Datsche aufs Parlamentsdach

Der Rentner Pjotr Petrowitsch wohnt in einer Datschensiedlung bei Moskau und steigt nachts in die Schlafzimmer junger Frauen ein, um ihnen beizuwohnen.
Eine dieser Frauen liefert den "Dorfsomnambulen" in der Psychiatrie ein, wo Petrowitsch mit Gemälden konfrontiert wird, auf denen Sartyre beim Anblick der Nymphe erschrocken verharren - woher Wladmir Makanin den Titel seines Romans "Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe" entlehnt hat. Weil Petrowitsch nur leichte Auffälligkeiten aufweist, zu denen eben das fehlende Schreckmoment gehört, wird er bald entlassen und nimmt sein Nachtleben wieder auf.

Die meisten Frauen genießen den Sex mit dem Unbekannten freudig oder geben vor, gar nicht zu erwachen, während er sich schadlos hält. Makanin belässt es nicht bei einer großen, etwas ermüdenden Zahl von Abenteuern. Mit wohlhabenden und verarmten Datschenbesitzern, mit reichen Sommergästen aus Moskau und höchst aktiven Dieben präsentiert sein in geschicktem Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive erzählter Roman eine Gesellschaft im Kleinen.

Der 1937 geborene Makanin, ein Mathematiker, hatte sich in den 70er und 80er Jahren als Moskauer Surrealist den Grotesken des sozialistischen Alltagslebens zugewandt. Anders als jüngere Kollegen schätzt er die Klassiker und manche ihrer Ideale, etwa das des Gesellschaftspanoramas: Makanins 700-seitiges Epos "Underground oder ein Held unserer Zeit" entfaltet es in einem heruntergekommenen Wohnblock.

Als Makanins Satyr der schönen Dascha nachstellt, ist es mit der vergnüglichen Repetition vorbei. Die 21-Jährige fährt mit dem nächtlichen Eindringling in die Stadt zum Weißen Haus, dem Sitz des Parlaments. Die gegen Jelzins Verfassungspläne protestierenden Parlamentarier sind zwar gerade von der Armee mit Panzern umstellt worden, aber mit dem unverdächtigen Alten an ihrer Seite gelangt Dascha ohne Schwierigkeiten durch die Absperrung.

Im Weißen Haus sucht Dascha niemand anderen als ihre Drogendealer. Während das Parlament durch Panzergranaten beschossen wird, leidet sie an heftigen Entzugssymptomen. Rührend kümmert sich Petrowitsch inmitten einstürzender Wände um die Leidende, auch, indem er ihr ein auf der anziehend gerundeten Brust angebrachtes Drogendepot ableckt. Berauscht steigt er dann nackt und mit erigiertem Glied auf das Dach, was die Militärs als Kapitulation werten: Der bekiffte Satyr und seine Travestie der heldenhaften Rotarmistenstatuen entscheiden den Verfassungskonflikt zwischen Jelzin und den Kommunisten. Das erinnert an Thomas Brussigs Roman "Helden wie wir", worin ein 21-jähriger mit seinem Gemächt die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht haben will.

Für das furiose letzte Drittel scheint Makanin einen sehr gemächlichen Anlauf genommen zu haben. Seltsam nur, dass der Beschuss des Parlaments 1993 stattfand, Petrowytsch jedoch zuvor einen Großneffen in der Datscha beherbergte, der traumatisiert und liebesunfähig aus dem 1994 (!) begonnenen Tschetschenien-Krieg heimkehrte. Was russische Leser vermutlich sofort erkennen, fällt hiesigen möglicherweise spät auf: Makanin erzählt das Geschehen rückwärts.

Mit einem Mal erscheinen die Makanin-typische Psychiatrie-Satire, die Datschen-Burleske und die Rotarmisten-Travestie in anderem Licht. Der Satyr auf dem Parlamentsdach erfährt nämlich beim Blick auf die Panzer den Schrecken, der ihn beim Anblick junger Frauen nie ereilte: "Kein neues Russland, sondern eine neue Macht" erwache hier, möchte der Geschockte hinausschreien und kann es nicht. Mit den Schüssen aufs Parlament und dem Tschetschenienkrieg beginnt die Zeit, in der Leute wie sein Großneffe den Ton angeben. Sie vertauschen, weiß Petrowitsch, Sex und Gewalt: Sie betrachten die Mitmenschen durch das Fadenkreuz des Gewehrs.

So gerät der Roman, der sich über lange Strecken in ergötzlichen Details zu verloren drohte, mit einem Mal zur überzeugenden Klage über eine gewalttätige Gegenwart.

Rezensiert von Jörg Plath

Wladimir Makanin: Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe
Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Luchterhand Literaturverlag, München 2008
446 Seiten. 22,95 Euro