Von der Bürgerrechtlerin zur Missionarin

Von Klaus Hart |
Barbara Ludewig war früher in der DDR-Bürgerrechtsbewegung aktiv und arbeitet jetzt als Missionarin in Favelas im Nordosten Brasiliens. Sie brauche "viel heilige Geduld", um der Armut und Gewalt begegnen zu können.
Die nordostbrasilianische Provinzhauptstadt Sao Luis ist wegen ihrer pittoresken Kolonialarchitektur UNESCO-Kulturerbe der Menschheit und begeistert auch immer mehr deutsche Touristen. Doch keiner von ihnen verläuft sich in den Wirkungsbereich von Barbara Ludewig, den von über 100.000 Menschen bewohnten Slum "Vila Embratel" an der Peripherie von Sao Luis.

Vom Auswärtigen Amt in Berlin wird vom Besuch solcher Elends- und Armenviertel, der brasilianischen Favelas, wegen der Gewaltkriminalität "dringend abgeraten". Die Reisenden erfahren damit nichts von der Kehrseite der achtgrößten Wirtschaftsnation, den schier unbeschreiblichen Sozialkontrasten, Massenarmut, Hunger und Verwahrlosung.

Barbara Ludewig aus Dresden entscheidet sich indessen 1999 ganz bewusst für die riesige Favela "Vila Embratel". In Halle an der Saale hatte sie zufällig Comboni-Missionare kennengelernt, 1994 in Sao Paulo die theologische Sommerschule der Franziskaner absolviert. Das war der Auslöser, gab ihr den letzten Anstoß – als Missionarin ihr Leben christlich mit den Menschen eines Slums zu teilen.

"Was mich bis heute begeistert, das ist einfach die Kraft der Leute. Also man könnte hier ja manchmal wirklich verzweifeln - manchmal tut man das auch. Aber diese Kraft aus dem Glauben – für mich ist das der Glaube, da durchzuhalten, zu widerstehen, zu glauben, dass sich was ändert, obwohl sich scheinbar überhaupt nichts ändert – das fand ich schon begeisternd.

Und was für mich persönlich die größten Herausforderungen sind – die Momente, wenn man merkt, man ist absolut machtlos und kann nichts machen. Ich weiß nicht, wie viele wir schon begraben haben, die umgebracht wurden."

Ohne den Glauben, dass für Gott nichts unmöglich ist und jeder Mensch sein geliebtes Kind ist, wäre es manchmal nicht auszuhalten, schreibt sie ihren deutschen Comboni-Mitstreitern in Südafrika, Kenia, Uganda und Äthiopien.

Der Slum "Vila Embratel" – das sind Hütten, Baracken, Backsteinkaten, stinkende Abwasserbäche, die in der Regenzeit teils zu reißenden Strömen werden. Man kann als ortsfremder Ausländer nicht einfach allein in den Slum hineingehen und sich mal umsehen. Das Risiko, bei einem bewaffneten Raubüberfall getötet zu werden, ist sehr hoch.

Man braucht ortskundige Begleiter der Kirche, am besten Priester. Doch selbst Erkundungen zu Fuß an deren Seite, oder mit Barbara Ludewig, sind nur sehr begrenzt möglich. Quesia Barros Madeira, eine junge Frau aus dem Viertel, leitet gemeinsam mit der 48-jährigen Deutschen die Kinder- und Jugendseelsorge:

"Die meisten hier leben von Tagelöhnerei, schlagen sich irgendwie durch – das Recht auf Bildung und Arbeit, auf Zugang zum Gesundheitswesen ist ihnen verwehrt. Und da rauben und morden eben viele, weil ihnen Perspektiven fehlen. Und viele Kinder arbeiten als Rauschgiftkuriere, bringen das Zeug zu den Kunden, sind selber süchtig. Würden wir das anzeigen, machten wir uns viele Todfeinde.

Die brasilianische Verfassung, die Gesetze und das Kinderstatut sind wunderbar – doch die Realität ist ganz anders, die Rechte der Heranwachsenden werden ständig verletzt. Auch von den eigenen Eltern, die ihre Kinder nicht selten grauenhaft verprügeln."

Quesia Barros Madeira weiß, wovon sie spricht – denn sie ist auch Präsidentin des städtischen Rates für die Rechte von Kindern und Jugendlichen. Sie teilt sich ebenso wie Barbara Ludewig auf, zwischen direkter Jugendbetreuung in kirchlichen Sozialprojekten und politischem Engagement, der Mitarbeit in politischen Instanzen der Millionenstadt Sao Luis.

Viele Kinder bekommen keinen Schulplatz, ein Großteil der Viertklässler kann immer noch nicht lesen noch schreiben, Schulen werden sogar niedergebrannt, viele Lehrer kommen aus Angst vor Schulgewalt nicht mehr zum Unterricht. Grund auch für Barbara Ludewig, bei den zuständigen Behörden zu protestieren, auf die Einhaltung der Gesetze, der Verfassung zu dringen.

Vom schlichten Häuschen der Jugendpastoral, in die fast ständig barbarischer Lärm einer angrenzenden Metallschleiferei dringt, gehen wir zum nahen Sport- und Kulturzentrum – diesmal stört überlauter Rock aus den Boxen eines Nachbarn. Sich betäuben mit aggressiven Rhythmen, Drogen, oder mit beidem, ohne Rücksicht auf Anwohner, zählt ebenfalls zu den problematischen Seiten des Favela-Alltags.

Barbara Ludewig: "Was für mich ein Problem ist, das ist dieser dauernde Lärmpegel – du hast also nie mal Ruhe. Ich denke, die Leute empfinden das hier nicht, die haben die Empfindung verloren. Ich weiß nicht, ob eine Folge davon ist, dass die sich in vielen Familien nur anschreien. Du denkst schon, die Eltern streiten, aber reden ganz normal."

Grundidee des Kultur- und Sportzentrums ist, Heranwachsende von der Straße wegzuholen, ihnen mit Fußball oder Tanz interessante, attraktive Alternativen zu bieten, sie psychologisch zu betreuen, zur christlichen Solidarität zu erziehen – und damit ein Abdriften in die Kriminalität zu verhindern.

Die Projektmitarbeiter suchen die enge Zusammenarbeit mit den größtenteils tief zerrütteten kinderreichen Familien. Nicht selten hat jedes Kind einen anderen Vater, der indessen so gut wie nie präsent ist. Wie verhütet wird, wissen alle – doch Frühschwangerschaften sind normal. Und auch mit 16, 17 schon zwei, drei Kinder zu haben.

Barbara Ludewig: "Man hat das Gefühl, der Groschen rutscht nicht runter. Es gibt sehr viele Mütter, die sich schlichtweg nicht kümmern. Und dann am Schuljahresende erwachen sie, weil das Kind nicht versetzt wird, oder weil’s vielleicht gar nicht mehr hingegangen ist. Das ist das größte Problem, diese völlige Ignoranz der Familien. Das nimmt zu.

Auf der anderen Seite, es gibt Mütter, die würden gern, aber die müssen arbeiten als Hausmädchen von früh bis nachts unterwegs, oder nur am Wochenende zuhause. Und wie wird so ein Kind mal seine Kinder erziehen. Null Fähigkeit erziehungsmäßig.

Und dann die Kriminalität – wie schwierig ist das für ein Kind, wenn der eigene Vater Drogen verkauft, Drogenhändler ist, dass der Jugendliche nicht in das Milieu abrutscht, das sind die Herausforderungen."

Projekte wie dieses, größtenteils finanziert mit Spenden aus Deutschland, Italien und Spanien, müsste es in der Favela "Vila Embratel" eigentlich Dutzende geben, um bessere Erziehungsresultate zu erzielen und weniger Enttäuschungen mit den Heranwachsenden zu erleben.

Barbara Ludewig: "In unseren Projekten – wir haben ja jedes Jahr Einbrüche, jedes Jahr mußt du die Sicherheit erhöhen. Das sind die eigenen Leute von hier! Ich habe jemanden im Gefängnis besucht, der hatte uns die Vorratskammer ausgeraubt, mit Wissen der Mutter, mit Segen der Mutter! (Das ist die Wasserpimpe) Das sind alles keine Engel – die überfallen, sind in Drogen verwickelt. Und das Schlimme ist, daß andere Leute das stimulieren oder ausnutzen. Junio – mit 18 bestialisch umgebracht worden. Der war schon vorher zweimal im Jugendgefängnis."

Brasilien ist zwar die achtgrößte Wirtschaftsnation, doch wie die Comboni-Missionarin beobachtet, sterben viele Kranke in der Warteschlange vor den Hospitälern. In "Vila Embratel", sagt sie, gibt es sogar noch mittelalterliche Lepra, ist die Aidsrate hoch. Wir gehen zur armseligen, niedrigen Kate von Ludewigs Mitstreiterin Maria Rodrigues.

Maria Rodrigues: "Ich verteile Nahrungsspenden und versuche den Müttern zu erklären, wie man Kinder richtig betreut, wie man Krankheiten erkennt. Unserer Seelsorge ist es gelungen, hier die Kindersterblichkeit auf Null zu senken. Aber bei den heftigen Tropenregen tritt der Abwasserbach über die Ufer, wird der Schlamm in alle Katen gespült, auch in meine eigene, und es liegen tote Tiere herum.

Da werden besonders die Kinder krank, kriegen sogar einen Wasserbauch. Manchmal möchte ich deshalb aufgeben. Aber wenn wir wieder einmal so ein Kind wie diesen Sechsjährigen dort, der nur noch Haut und Knochen war, retten konnten, fühle ich mich von Gott belohnt – und mache weiter."

Barbara Ludewig, von Beruf Gemeindereferentin und Krankenschwester, besorgt aus ihrer sächsischen Heimat immer wieder Spenden für die Projekte des Slums. Dabei stehen, wie sie betont, in Brasilien genügend Gelder bereit, würden indessen nur zu oft abgezweigt, weil die Korruption so hoch sei. Unweit des Slums produzieren große Aluminiumwerke, liegt der gigantischste Eisenerzhafen der Welt.

Nicht nur die Comboni-Missionarin, sondern auch ihr oberster Vorgesetzter in der Diözese, Franziskaner-Erzbischof José Belisario dos Santos, fragen sich, welchen Nutzen die einfache Bevölkerung von diesen Industrien hat.

Santos wohnt in einem heruntergekommenen Altstadtviertel, in dem viele Arme hausen, und blickt auf einen deprimierenden Pfahlbauslum direkt in der Bucht von Sao Luis – mit den Kreuzfahrtschiffen und den Erzfrachtern.

José Belisario dos Santos: "Die enorme wirtschaftliche Modernisierung hat das soziale Umfeld nicht verbessert, denn ein Großteil der Bewohner unserer Region haust immer noch so wie am Beginn des vergangenen Jahrhunderts – ohne Wasseranschluss und Kanalisation, unter grauenhaften hygienischen Bedingungen, die Epidemien verursachen.

Unser Teilstaat wird zudem von einer Oligarchie beherrscht, die sich mit Gewalt, Korruption und Stimmenkauf an der Macht hält. Die Kirche kämpft dagegen an, hat aber hier einen besonders schweren Stand. Die Konflikte des Bischofs mit dem Gouverneur sind hier traditionell sehr heftig."

Barbara Ludewig bringen die Konflikte bei kirchlicher Basisarbeit nicht selten aus dem seelischen Gleichgewicht. Vor allem, wenn immer wieder junge Menschen, die sie jahrelang betreute, ermordet werden. Dann schöpft die Missionarin neue Kraft aus dem Gebet, aus der Tankstelle "Glauben", wie sie es nennt:

"Das sind sehr harte Momente. Wo du rennst und kämpfst, und von einer Instanz zur anderen läufst. Ich will nicht sagen, dass es nichts gebracht hat, ich bin nach wie vor überzeugt, dass es sich unterm Strich trotzdem lohnt, aber das ist schon sehr hart."

Bei geringfügigen Streitigkeiten oder Diskussionen zum Messer, zur Pistole zu greifen, schreibt sie den deutschen Comboni-Missionaren, ist für viele in unseren Peripherievierteln selbstverständlich.

"Das schreit für mich zum Himmel und zeigt mir, dass die Botschaft Jesu die Menschen noch nicht wirklich erreicht hat, auch wenn statistisch gesehen über 95 Prozent irgendwie christlich sind."

Und wie wird Barbara Ludewig von ihren Projektmitarbeitern gesehen?

Quesia Barros Madeira: "Barbara zieht die Sachen durch, arbeitet sehr genau – was hier in Brasilien ja gar nicht so üblich ist. Barbara plant, organisiert gut – davon haben wir, die Kinder und die Familien großen Nutzen.

Doch manchmal quälen sie diese Extremsituationen, diese ganze soziale Lage sehr. Wir möchten die Probleme lösen – aber oft ist das eben unmöglich. Bei soviel Ungerechtigkeit hier braucht man viel heilige Geduld."