Von der Brotlosigkeit der Kunst und der Friedlosigkeit des Schreibens

Moderation: Dieter Kassel |
Unter dem Motto „Schreiben in friedloser Welt“ findet der 72. PEN-Weltkongress in Berlin statt. Das Unbenannte zu benennen, bezeichnete der tschechische Schriftsteller und PEN-Präsident Jiri Grusa im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur als die kreative Substanz von Literatur. Weltweit gäbe es laut Grusa rund 1000 verfolgte Schriftsteller, 200 davon mit Gefängnisstrafen von über 20 Jahren.
Kassel: Vor 20 Jahren fand zum letzten Mal der Weltkongress der internationalen Schriftstellervereinigung PEN in Deutschland statt. Damals, 1986, war das in Hamburg in einem ganz anderen Deutschland, in der alten Bundesrepublik. Seit gestern nun findet der 72. PEN-Weltkongress in Berlin statt, im wiedervereinigten Berlin ohne Mauer. Und das hat für den PEN eine große Bedeutung, denn zu Zeiten des Kalten Krieges hat er sich vor allem dafür eingesetzt, die Rechte und die Freiheit der Schriftsteller in den Ländern des Warschauer Paktes einzurichten oder zu erhalten. Die Welt hat sich verändert und „Schreiben in friedloser Welt“, so lautet das Motto des diesjährigen PEN-Weltkongresses. Und im Berliner Hilton Hotel begrüße ich jetzt live den amtierenden Präsidenten des PEN, den tschechischen Schriftsteller und Politiker Jiri Grusa. Schönen guten Tag, Herr Grusa!

Grusa: Schönen guten Tag!

Kassel: Dieses Motto „Schreiben in friedloser Welt“ bezieht sich das für Sie auf die vielen Länder auf der Erde, in denen es Krisen gibt, in denen es Kriege oder kriegsähnliche Zustände gibt, oder ist für Sie auch Mitteleuropa im Moment eine friedlose Welt?

Grusa: Ja, das ist keine leichte Definition, aber eindeutig, die Betonung ist in den Regionen, die Sie vorher erwähnt haben, denn die Anzahl der Verfolgten hat sich ja erhöht, in den letzten zwei Jahren. Wir haben mehr als 1000 verfolgte Literaten, unterdrückte Literaten registriert, einige sind verurteilt worden, 200, 200 bitte, Schriftsteller sitzen im Knast und haben sozusagen Strafen bekommen, die über 20 Jahre lang dauern sollten, oder sollen. Das ist keine gute Entwicklung. Natürlich in Europa hat sich, wie Sie vorher schon schön erzählt haben, die Situation nach ‚89 verbessert oder beruhigt, aber das bedeutet hier auch nicht, dass wir alles schon gelöst haben, denn die Friedlosigkeit des Schreibens ist eine, sagen wir, substantielle Sache, denn das Schreiben ist etwas, womit die Begriffe geklärt werden sollen. Das Unbenannte muss benannt werden, das ist die kreative Substanz der Literatur und bei dieser Gelegenheit bekommen Sie immer Probleme, deswegen sorgen die Literaten gewissermaßen für eine Portion der Friedlosigkeit.

Kassel: Sie haben damit aber auch schon, Herr Grusa, erklärt, dass ja auch für den PEN die Welt komplizierter geworden ist. Im Kalten Krieg war das doch noch relativ eindeutig. Da war nicht nur, aber vor allem, die Meinungsfreiheit, die Freiheit des Wortes, eingeschränkt in den Ostblockstaaten, man hat aus dem Westen heraus versucht da etwas zu ändern. Heute gibt es so viele Krisen und es gibt so viele unterschiedliche Gründe, warum Schriftsteller nicht frei arbeiten dürfen, weil sie von Strafen bedroht sind. Wie stark erschwert das auch die Arbeit eines PEN, der ja nationale Vereinigungen in 99 Ländern hat und ja auch sehr groß ist?

Grusa: Ja, es ist nicht nur das, was Sie beschreiben. Die rasante Entwicklung, wir nennen uns PEN, das ist auf Englisch Feder, ja? Wer schreibt heute mit einer Feder, jeder hat eine Maus, und diese Maus ist kein Tierchen, sondern eine mechanische Sache, die ermöglicht eine schnelle Verbindung der Ortschaften in der ganzen Welt, aber gleichzeitig löst sie sofort nichts. Das heißt, wir müssen sozusagen die Gerätschaft der Literatur anders definieren, wir müssen aber gleichzeitig auch das, was die Literatur repräsentiert aufs Neue definieren in einer Welt, die jede fünf Jahre um die Hälfte kleiner wird, rein mechanisch gesehen. Und das ist eine ganz neue Aufgabe, die die Gründungsväter, oder unsere Gründungsmütter, vor 80 Jahren, oder 82 Jahren, noch nicht so genau gesehen haben, obwohl sie diese Leute, Galsworthy und die anderen, schon damals den richtigen Gedanken hatten, den wir bis heute repräsentieren. Auf den, bitte, Erfahrung der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges mit dieser fürchterlichen Konsequenz der militanten Nationalismen in Europa, an denen sich die Literaten in jeweiligen Ländern beteiligt haben, mit der nationalistischen Hetze, haben wir beschlossen, die Literatur nicht als ein nationales Gut zu betrachten, sondern als eine Art der kommunikativen Kompetenz untereinander und das ist eine ganz andere Definition, die ist bis heute modern und die bleibt für diese sich ständig verkleinernde Welt aktuell.

Kassel: Bleiben wir kurz bei den neuen Medien, die Sie ja mit diesem Beispiel der Maus jetzt gerade ins Gespräch gebracht haben. Ist der PEN schon dabei, auch die Schriftsteller zu vertreten, die eben, streng genommen, keine Bücher mehr schreiben, die keine gedruckten Werke herausbringen, sondern die vielleicht nur noch im Internet arbeiten? Ist eine so, doch ja auch alte Organisation mit alten Traditionen schon so weit, die wirklich miteinzunehmen?

Grusa: Das ist eben das Thema, was ich hier angesprochen habe für die internen Diskussionen. In meinen Augen ist das der notwendige Schritt und ich halte das für wichtig, dass wir in dieser Richtung schreiten, natürlich, ich selber bin immer ein Traditionalist, so lange ich etwas nicht ausgedruckt bekommen habe, glaube ich nicht daran, das geschrieben zu haben. Und diese mentale Behinderung, die ich selber vertrete, oder selber repräsentiere, ist etwas, was natürlich auch die anderen Autoren haben. Aber wenn wir nicht diesen mutigen Schritt in die neue Welt der Verbundenheit tun, könnte das für den PEN, für die Zukunft eine gewisse Komplikation bedeuten.

Kassel: Bedeutet das auch, dass der PEN bei seiner Arbeit für die Freiheit von Schriftstellern, für die Freiheit des Wortes, im Vergleich zu früher auch neue, ich nenne es bewusst so, neue Gegner hat. Früher waren das oft Regierungen, Regime. Jetzt, wenn Sie das Internet erwähnt haben, denkt man vielleicht an einen so mächtigen Konzern wie Google, von dem wir ja wissen, dass er sich in China zum Beispiel an der Zensur beteiligt und in andern Ländern auch. Sind das vielleicht neue Gegner oder, wenn es besser läuft, Partner?

Grusa: Ja, das sind, also diese Definition, die wir damals, oder die wir noch immer repräsentieren ist etwas, was die „freedom of expression“, also die Freiheit des Wortes bedeutet, auch, dass wir neue Feinde bekommen können. Und das sind alle die Institutionen, die der Meinung sind, dass man die Quelle der Kreativität unter eine einzige Masche sozusagen als eine einzige Masche verstehen darf. Und das ... kann mal, also, eine Diktatur sein, das kann mal eine unverschämte Organisation sein, die der Meinung ist, dass sie schon alles hat und dass jeder sich da einklicken oder sich da einwählen muss. Und die kann genau so gefährlich sein wie die anderen.

Kassel: Nun haben ja Schriftsteller mehrere Gefahren, denen sie nicht erliegen sollten. Es ist nicht nur die Freiheit, es ist nicht nur die Bedrohung durch was auch immer, Schriftsteller sollten idealerweise auch von ihrer Arbeit leben können. Und gerade in Zeiten des Internets, wo jeder Text überall verfügbar ist, gibt es zu Recht eine sehr intensive Debatte über notwendige Veränderungen im Urheberrecht. Ist so was auch ein Thema für den PEN, nicht nur dafür zu sorgen, dass Schriftsteller physisch überleben, sondern auch wirtschaftlich?

Grusa: Nun, da haben Sie die älteste Frage der Literatur angesprochen, denn das ist ein harter Job und wenn ich mich richtig erinnere in Deutschland oder in der deutschen Sprache gibt es eine wunderschöne Wendung: die brotlose Kunst. Und wir repräsentieren gewissermaßen die Brotlosigkeit der Kunst, denn die Kunst ist brotlos so lange man die wichtigen Themen anspricht, die noch nicht verkauft werden könnten. Und es gibt nicht nur die Machtkonformität, sondern auch eine Marktkonformität, die für die kreative Begabung eines Autors genau so gefährlich sein kann, als sozusagen eine Macht, die ihn zensiert, denn das ist, wissen Sie, ... damit will ich gar nichts gegen diese Literaten oder diese Literatur sagen. Es war immer mein Traum ein erzählerisches Buch schreiben, eine Art … (Anmerk. d. Red.: im Hörprotokoll unverständlich) über die böhmischen Schlösser oder so was, das Buch gut verkauft zu haben und davon zu leben, und dann meine komplizierte Kunst weiter zu betreiben. Nun, das sind aber zwei Sachen, die man sehr schwer auf den einen und einzigen gemeinsamen Nenner bringt. Und deswegen bleibt das Literarische oder Literatur ein risky job. Das ist nicht zu beseitigen, weil das zu dieser Friedlosigkeit, die Sie erwähnt haben, eingangs, ist etwas, was auch die Autoren angeht, als die Konsequenz der Freiheit, die sie sich nehmen, das Unbenannte zu benennen.

Kassel: Es scheint, wir sind ja damit bei dem was man so Globalisierung nennt und was ja auch die Literatur betrifft, ja ein bisschen auch eine interessante Globalisierung der Sprache zu geben, ich meine jetzt wirklich Sprache im Sinne von Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch. Es gibt eine Veranstaltung, eine öffentliche, im Rahmen dieses PEN-Kongresses in Berlin, da werden Schriftsteller vorgestellt, die in deutscher Sprache schreiben, obwohl sie zumindest eigentlich aus einem Land kommen, in dem man nicht Deutsch spricht. Dafür sind Sie ja das beste Beispiel, Sie sind tschechischer Staatsbürger, ein interessantes Leben, Sie waren es mal jahrelang nicht, da waren Sie offiziell Deutscher, nun sind Sie langer wieder Tscheche, haben lange natürlich in Ihrer Muttersprache geschrieben, haben aber seit ungefähr 15 Jahren auch Werke, sogar Lyrik, in Deutsch verfasst. Grade ein Landsmann von Ihnen, Milan Kundera, lebt in Paris, schreibt auf Französisch, das heißt die Zeiten, wo ein Mensch offenbar grundsätzlich sein Leben lang in seiner Muttersprache schreiben muss, sind vorbei. Ist das auch eine Folge der Globalisierung, dass eine Muttersprache diese Rolle nicht mehr spielt?

Grusa: Das sind die Definitionen des 19. Jahrhunderts, also die Muttersprache, die Heimat und so weiter, das ist alles wichtig, das ist die kreative Quelle der Selbstständigkeit oder der Individualität, aber die kommunikative Kompetenz, die ich vorher erwähnt habe, bedeutet, dass man aus dieser kreativen Quelle heraus irgendwie sich nicht befreien, sondern sagen wir, diese Position zu erweitern, dann sind Sie sofort mit den anderen Sprachen im Verbund, und das ist ja die heutige Welt. Man kann nicht ohne, sozusagen, eine zusätzliche Sprache, die Komplexität dieser Welt verstehen, das ist keinesfalls eine imperiale Komponente oder eine Unterdrückung, das ist die kommunikative Kompetenz. Und die bedeutet dann, es gibt auch Limitierungen und Unterdrückungen der eigenen Literaturen, denn nichts ist so schlimm, das ist meine Erfahrung mit dem kommunistischen System, als eine nationale Literatur beherrscht von zwei Beamten, die sagen, was gut ist für das Volk, und Sie müssen schreiben. Und das ist dann natürlich gesund für die Zukunft und für die Rettung des Volkes, das haben wir alles gehabt. Und mich hat damals eigentlich befreit oder gerettet, die Tatsache, dass die mich ausgebürgert haben, dass ich hier die Möglichkeit bekommen habe Deutsch zu schreiben und Deutsch wurde dann die Sprache meiner Freiheit. Das ist also, wenn Sie das wollen, verglichen mit der tschechischen Geschichte eine Art Ironie. Und die Ironie ist die vierte Komponente unserer Haltung. Also zuerst müssen sie eine Empathie entwickeln, das heißt, das andere Ich ist genau so interessant wie ich selber, oder Du ist .. genau so interessant wie ich, ein Du ist genau so interessant wie mein Ich, dann brauchen Sie diese ... das ironisiert ihre eigene Position in dem Sinne, dass ich mir sagen muss, ich bin doch nicht so wichtig, denn jeder Autor, der etwas Gutes schreiben will, muss also die Überzeugung haben, er ist der wichtigste Formulierer in der Welt, ohne diese Selbstbezogenheit können Sie gar nichts machen, aber dann kommt diese Reduzierung dieser Position, im Sinne der Ironie und dann läuft der, sozusagen, Hase durch das richtige Feuer.

Kassel: Ein schönes Schlusswort. Jiri Grusa, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Grusa: Ich danke Ihnen auch!

Kassel: Das war live zugeschaltet aus dem Hilton in Berlin der Präsident des Schriftstellerverbandes PEN, im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Er ist seit drei Jahren Präsident und morgen steht übrigens auf dem Kongress die Wiederwahl an. Was ebenfalls ansteht ist die Rede von Günter Grass auf diesem Kongress, von der sehr viel erwartet wird, und über dieser Rede, und natürlich auch weiter von diesem PEN, werden wir heute Nachmittag in unserem Radiofeuilleton berichten.