Von der befreienden Wirkung des Lesens

Von: Gregor Ziolkowski |
Der Cervantes-Preis gilt als der Literatur-Nobelpreis der spanischsprachigen Welt. Der spanische Autor Rafael Sánchez Ferlosio, dem der Preis von König Juan Carlos überreicht wurde, ist als Preisträger nicht unumstritten. Nach Roman-Bestsellern in den Fünfzigern brilliert er vor allem mit Essays, in denen er sich als besessener Leser zu erkennen gibt.
Natürlich war es eine zusätzliche Bürde für die Jury des wichtigsten Literaturpreises der spanischsprachigen Welt, dass man in Spanien in diesem Jahr in großem Stil das 400. Jubiläum der Erstausgabe des "Don Quijote" begeht. Dass der Preisträger aus Spanien und nicht aus Lateinamerika kommen würde, lag da von vornherein nahe. Ohnehin war dem Prinzip des lockeren Alternierens zwischen spanischem und lateinamerikanischem Preisträger Genüge getan, indem vor einem Jahr der chilenische Dichter Gonzalo Rojas den Cervantes-Preis entgegennehmen konnte. Nun also musste man auf die Suche nach einem ungewöhnlichen Preisträger gehen, nach einem, der auf irgendeine Weise herausragt aus der sozusagen üblichen Abfolge von Schriftstellern. Man hat ihn gefunden, aber wie der Sprecher der Jury bei der heutigen Preisverleihung bekannt gab, war die Entscheidung alles andere als einmütig.

Mehrere Abstimmungen und eine anschließende Diskussion zwischen den Juroren waren notwendig, bis man sich mehrheitlich auf den Preisträger einigen konnte: Rafael Sánchez Ferlosio. Mit viel Erstaunen und durchaus mit einigem Befremden hatte man die Entscheidung der Jury zur Kenntnis genommen. Denn mit Sánchez Ferlosio wurde ein Preisträger gekürt, der dem Schreiben von Belletristik praktisch völlig entsagt hat. Der im Ganzen nur zwei bedeutsame Romane, einen Erzählungsband und Gedichte veröffentlicht hat. Vor allem die Romane freilich waren es, die dem 1927 in Rom geborenen einen enormen Ruf einbrachten.

1951 erschien der Roman "Abenteuer und Wanderungen des Alfanhuí", eine poetische und hinreißende Mischung aus Märchen und Bildungsroman, der die Wanderjahre eines Jungen beschreibt, der der Schule verwiesen wurde, weil er sich ein eigenes Alphabet erfunden hat. Ein phantastisches Märchen, aber durchdrungen von der Realität der kastilischen Landschaft und ihrer Bewohner war dieses Debüt, eines der eigenwilligsten Bücher der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Als er vier Jahre später den Roman "Am Jarama" vorlegte, der nichts anderes ist als die raffinierte Reproduktion von Gesprächen, die eine Gruppe von Madrider Ausflüglern am Ufer des Flusses Jarama führt, war sein Ruf als Erneuerer des realistischen Romans, der höchst kunstvoll die Alltagssprache zu einer sozialkritischen Komposition zu fügen weiß, vollkommen.

Der hoch angesehene Nadal-Literaturpreis bestätigte dem noch nicht 30-Jährigen diesen Ruf, aber just in diesem Moment stellte der Skeptiker Sánchez Ferlosio seine – im engeren Sinn – literarische Produktion ein. Heftiger noch: in seinen wenigen Äußerungen zur eigenen Produktion lässt der medienscheue Autor an dem Roman "Am Jarama" kaum ein gutes Haar, sein Erstling, die "Abenteuer und Wanderungen des Alfanhuí" habe immerhin "einige gute Stellen", so der Preisträger über sein eigenes Werk. Ist es angemessen, bei soviel Distanz zum eigenen Schaffen ausgerechnet den höchsten Literaturpreis für dieses Schaffen zu vergeben?

In seiner heutigen Preisrede hat Sánchez Ferlosio durchaus demonstriert, warum er dieses Preises für würdig befunden wurde. In einem luziden Essay, der von Aristoteles ausging, bei Hegel kurz anlegte, um gleich darauf zu Walter Benjamin aufzubrechen, der Ortega y Gasset und viele andere auf die Reise mitnahm und selbstverständlich Cervantes und den "Quijote" als Landungspunkt ansteuerte, schimmerte diese andere Dimension auf, die ebenfalls zur Literatur gehört: die des kundigen, dabei unermüdlich wissbegierigen Lesers. Dessen, der die Reibung an Texten sucht, um daraus neue Texte zu produzieren.

Rafael Sánchez Ferlosio ist ein solcher Leser, der seit Jahrzehnten vorwiegend kluge Essays produziert, und der Coup des Cervantes-Preises besteht in diesem Jahr darin, genau diese Seite der Literatur, diesen zur Auseinandersetzung bereiten Leser zu prämieren. Das passt zur kulturpolitischen Linie, die die sozialistische Kulturministerin Carmen Calvo zu Beginn dieses Quijote-Jahres ausgerufen hatte: nicht nur um die Würdigung des Romans und seines Autors sollte es gehen, sondern vor allem um eine große Initiative zur Leseförderung. Entsprechend fehlten in ihrer Laudatio auf den großen Leser Sánchez Ferlosio nicht die Hinweise auf die befreiende, demokratisierende, emanzipierende Wirkung des Lesens.

Aus der Rede von Carmen Calvo: " Welche Bedeutung hat das Erlernen des Lesens, um frei sein zu können! An diesem Punkt wurzelt die Verpflichtung dieser Regierung, die Kulturtechnik Lesen zu verteidigen und zu fördern. Denn sie ist ein unverzichtbares Werkzeug, um eine demokratische Gesellschaft, eine Gesellschaft mündiger Bürger zu erreichen. Mit Freude und Genugtuung haben wir die letzten Umfragen zum Leseverhalten in Spanien zur Kenntnis genommen: Der Anteil der Leser in der Bevölkerung wächst. Seit Monaten übertrifft er jene verfluchte Grenze von 50 Prozent gegenüber jenen, die angeben, nicht zu lesen. "

Rafael Sánchez Ferlosio, der Preisträger, hörte das mit diesem leicht betrübten und melancholischen Blick des Skeptikers. Dessen, der zu wissen scheint, dass Lesen nicht gleich Lesen ist und dass die Höhen eines geschliffenen Essays nur dem kleineren Teil der Leserschaft vorbehalten sein werden. Gegen die Obsession der Ministerin würde er wohl dennoch kaum protestieren: Vielleicht – soll er gesagt haben, als ihn die Nachricht vom Cervantes-Preis erreichte – vielleicht liest jetzt ja auch jemand meine Texte.