Von Burkhard Müller-Ullrich

Ein gefundenes Fressen, möchte man sagen, ist der Fall Grass für die deutschen Feuilletons. Kaum einer der Autoren lässt ein gutes Haar an dem Nobelpreisträger - und wer es täte, würde sich wiederfinden im Kreis einer Reihe iranfreundlicher arabischer Publikationen.
Ein, zwei, drei, vier Texte zum Grass-Skandal bringt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG – und auch die anderen Feuilletons sind voll davon. Es sei nun einmal so,

"daß wir aus tief in der Geschichte verwurzelten Gründen Gedichte höher schätzen als Leitartikel oder politische Pamphlete und den Dichtern gern prophetische Gaben zutrauen, die weit über die Fähigkeiten von Leitartikelschreibern hinausgehen,"

erklärt der amerikanische Schriftsteller Louis Begley in der FAZ und erinnert an einen, der solche Dichtung schuf: Paul Celan, Autor der "Todesfuge". Er ließ sich vom jungen Grass vorlesen, als der an seiner "Blechtrommel" schrieb. Er hörte ihm zu und machte ihm Mut. Wie Celan wohl reagiert hätte, wenn ihm Grass offenbart hätte, was er ganze 62 Jahre lang verschwieg – seine Mitgliedschaft in der Division "Frundsberg" der Waffen-SS? Das fragt Louis Begley, für den der eigentliche Skandal darin besteht,

"dass Grass unter Einsatz der "Atommacht" seines Namens eine angesehene deutsche Zeitung zur Veröffentlichung dieses billigen Prosatexts bringen konnte, den er als Dichtung verfasst hatte. (Zitatende)"

Zwei Korrespondentenberichte in derselben FAZ fassen die Reaktionen auf die österliche Stinkbombe des deutschen Literaturnobelpreisträgers zusammen: einhellig ablehnend sind diese in den USA, weitgehend zustimmend in der arabischen Welt, wo beispielsweise die iranfreundliche libanesische Tageszeitung "Al-Safir" sich darüber freut, dass ein so kurzes Gedicht so viel in der Öffentlichkeit bewirkt habe, selbst wenn es in literarischer Hinsicht fade sei, und hinzusetzt:

"Ein Lob auf alle derartigen faden Dichtungen!"

In dem regimenahen jordanischen Blatt "Al-Doustour" begrüßt der Kommentator das Grass-Gedicht nach Auskunft der FAZ so:

"Hier verlange zum ersten Mal ein deutscher Schriftsteller von seinen Landsleuten unmißverständlich, sich von ihrem Schuldkomplex gegenüber Israel zu befreien."

Dietmar Dath zieht derweil die Reaktion der israelischen Regierung auf den Grass-Skandal ins Lächerliche mit einem dadaistischen Einreiseverbots-Jux, der deutlich macht, dass manches Feuilletongehirn zwischen Katastrophe und Comedy nicht unterscheiden kann und/oder will.

Umso deutlicher fällt diese Unterscheidung bei dem jüdischen Nachwuchskomiker Oliver Polak aus Papenburg aus, der in der TAGESZEITUNG ohne ein Fünkchen Komik gegen Grass polemisiert:

"Du Vorzeigeintellektueller machst durch deine Ausführungen Judenfeindlichkeit salonfähig, und das alles elaborierst du mit dem Impetus pazifistischer Verantwortung."

Israel sei ihm oft egal, schreibt Polak, aber solange es Leuten wie Grass und vermeintlichen Weltverbesserern nicht egal sei, werde es ihm, Polak, auch nicht egal sein können. Und weiter an "SS-Günni" gewandt, fährt er fort:

"Den Höhepunkt des Ekels erreichst du jetzt, wenn du schreibst, du seist Israel zugetan, also auch den letzten lebenden alten Frauen und Männern, die mit Müh und Not nach ihrem Martyrium in Auschwitz einsehen sollten, dass die Leugnung des Holocaust lustiges iranisches Geschwätz ist, das man doch nicht ernst nehmen könne, ihr Zurückgebliebenen, die ihr so wenig Toleranz gegenüber dem Iran zeigt."

Das schreibt einer, dessen Vater, wie er formuliert,

"zwischen 38 und 45 nicht auf einem All-inclusive-Hawaii-Urlaub war,"

und dessen Text sogar und zumal für TAZ-Verhältnisse eine erstaunliche Durchschlagskraft hat.

In der WELT berichtet Wolf Lepenies über einen kürzlich in Frankreich entdeckten Text von Albert Camus, der auch Durchschlagskraft besitzt, aber der Zensur zum Opfer fiel und nie publiziert wurde. Es ist ein Text aus seiner frühen Journalistenzeit in Algier, ein Text der vom Journalismus handelt und vier Qualitätskriterien nennt: Klarheit, Widerspruch, Ironie und Eigensinn – oder in der Übersetzung von Jürg Altwegg, der bereits vor drei Wochen über denselben Camus-Text in der FAZ berichtete: Klarheit, Ironie, Verweigerung und Hartnäckigkeit.

""Schnell ist nicht gut. Denn die Wahrheit leidet","

lautet, Camus zitierend, die Überschrift über Lepenies‘ Artikel in der WELT. Aber langsam ist eben auch nicht gut, wenn man bloß eine Story aus "Le Monde" nacherzählt.