Von Arno Orzessek

Die flächendeckende Beschäftigung mit 9/11 geht in die vorletzte Runde und führt das Feuilleton zu persönlichen, verschmockten, kritischen und weltorakelhaften Sätzen. In London wird zu dem "jumbo-kolossalen" Thema auch Theater gemacht.
Zunächst eine Abschweifung. Der Tag des Terrors, der 11. September 2001, wird auf Amerikanisch bekanntlich Nine Eleven abgekürzt – und nicht anders der berühmteste deutsche Sportwagen. Hierzulande Neun-Elfer genannt, firmiert der Porsche 911 in den USA seit jeher als Nine Eleven.

Ein Zufall, na klar… der indessen in unserem Fall dazu geführt hat, dass wir auf der Straße regelmäßig schnittige 9/11-Mahnmale sehen und uns das Röhren des 911er an die einstürzenden Twin Towers erinnert.

Wie der 11. September 2001 die Welt verändert hat, ist ein großes Thema in den aktuellen Feuilletons. Eine persönliche Perspektive wählt Ulrich Wickert in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Der ehemalige Moderator der "Tagesthemen" berichtet, wie die Terrorattentate zunächst den 11. September selbst, konkret: seinen eigenen Arbeitstag, verändert haben. Er musste restlos unvorbereitet vor die Kameras treten:

"Ich sehe die Bilder im selben Augenblick wie die Zuschauer. Es springen Menschen aus den Türmen. Soll ich es ansprechen? Lieber nicht. Dann sage ich es doch. Da springen Menschen aus den Fenstern. Aber der Zuschauer soll sich den Rest denken. […]. Ich […] habe nur Angst, dass ein sensationshungriger Bildregisseur dann in Großaufnahme zeigt, was von den Körpern unten übrigen geblieben ist",

erinnert sich Ulrich Wickert in der FAZ.

In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG schlägt Martin Mayer einen Bogen von 1989 über 9/11 bis zum "gänzlich unerwartete[n] ‚arabischen Frühling’". Er missbilligt die jüngsten Kriege der USA und endet gravitätisch bis zur Unverständlichkeit:

"Euphorie, die damit rechnen möchte, es verändere sich […] [in der arabischen Welt] bald wichtiges zum Besseren von Demokratie und Selbstbestimmung, ist kaum angebracht. Gleichwohl könnte da ein korrigierendes Narrativ anheben, das gegenläufig zu den Absichten, die 9/11 verdichtete, die Zukunft als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit für sich beansprucht. Aus dem Eigenen zu gestalten, was Menschenwürde erheischt: Keine Antwort wäre geeigneter, das Menetekel zu übermalen, das mit dem 11. September vor zehn Jahren in Erscheinung trat."

So NZZ-Autor Mayer. So verschmockt. Anders Bettina Gaus, die in der TAGESZEITUNG vor Überinterpretationen des 11. September warnt.

"Die Entwicklung in Deutschland ist ein gutes Beispiel für Ausmaß und Grenzen der Bedeutung von 9/11: Ja, konservative Innenpolitiker hatten es wohl leichter, als sie es sonst gehabt hätten, ihre [Sicherheits-]Gesetze durchzusetzen. Sie profitierten vom Schock, den die Attentate ausgelöst hatten. Aber diese konnten eben auch nicht jedes Misstrauen gegen einen als übermächtig empfundenen Staat auslöschen. Im Kern hat sich das politische Klima in Deutschland durch den 11. September nicht verändert."

TAZ-Lesern sei auch der Beitrag Arno Franks empfohlen, der den greisen Welterklärer Peter Scholl-Latour in dessen südfranzösischem Domizil besucht hat:

"Es dauert […] eine Weile, dem gern von Hölzchen auf Stöckchen abwandernden Peter Scholl-Latour einige Antworten auf unsere eigentliche Frage zu entlocken: Wer hat vom Anschlag von 9/11 profitiert? Und wer nicht? ‚Wer nicht? Die USA! Eine hysterische Überreaktion war das von den Amerikanern damals, verstehe ich überhaupt nicht’",

poltert Peter Scholl-Latour in einem TAZ-Text von Arno Frank.

Passend zum Jahrestag von 9/11 ist das aktuelle Geburtstagskind in den Feuilletons ein Historiker. Hans-Ulrich Wehler, Chefdenker der Bielefelder Schule, Polemiker, Liebhaber trockener Strukturgeschichte, wird 80.

Die Überschrift des Gratulationsartikels in der Tageszeitung DIE WELT ist auf Wehlers Einschätzung charismatischer Persönlichkeiten vom Schlage Bismarcks und Hitlers gemünzt - liest sich aber in diesen Tage wie eine Anspielung auf bin Laden:

"Und Männer machen doch Geschichte."

Zuletzt: Laut FAZ ist am Londoner Headlong-Theatre im Rahmen des Stücks "Decade" gefragt worden, wie historisch der 11. September ist. Die Antwort:

"’Kein Zweifel, supersize, jumbo-kolossal, mega-episch.’"