Von Arno Orzessek
Die FAZ berichtet von einer seltsamen Krankheit, die italiensische Frauen befällt: die "Sommertraurigkeit". Ein breites Echo finden in den Feuilletons die Uraufführung von Peter Handkes "Immer noch Sturm" und Woody Allens neuer Film "Midnight in Paris".
Zunächst eine Nachricht aus dem Sommerloch.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG stellte Dirk Schümer die in Italien entdeckte Saisonkrankheit
"summer sadness",
also etwa ‚Sommertraurigkeit’, vor.
Laut Schümer betrifft sie
"vor allem Frauen über Fünfunddreißig und äußerst sich in Depressionen und Panikattacken, zuweilen auch Ess-Anfällen und Alkoholexzessen."
Verantwortlich für summer sadness sei allzu viel Helligkeit.
"Die kommt über die Augen beim Hirn an und führt zu verkehrten Ausschüttungen von Melatonin, was dann wieder das mentale Gleichgewicht übel erschüttert."
In Deutschland, konstatierte Schümer, sei eine summer sadness-Epidemie indessen kaum zu befürchten. Denn merke:
"Für eine Sommerdepression muss es erst einmal so etwas wie Sommer geben."
Das zum Wetter. Und nun zu "Immer noch Sturm", der dramatischen Erzählung von Peter Handke, deren Titel auf eine Regieanweisung Shakespeares in "King Lear" zurückgeht.
"Immer noch Sturm" handelt von Geschichte generell und im Besonderen von Sloweniens Kriegs- und Nachkriegsgeschichte sowie Handkes Familiengeschichte.
Sämtliche Feuilletons besprachen die Uraufführung, bei der Dimiter Gotscheff im Rahmen der Salzburger Festspiele Regie geführt hatte. Als den
"vielleicht wichtigsten und besten Theatertext Handkes",
lobte Christopher Schmidt in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG die Vorlage und bemerkte zur Aufführung:
"Sie macht ernst mit dem Spiel. Sie bläst einen Sturm in die Herzen, der falsche Wahrheiten entlaubt und uns zu Partisanen macht des Dichters."
Die pathetische Wortstellung "und uns zu Partisanen macht des Dichters" deutet an, dass der SZ-Autor von Handke ordentlich bekifft war.
Genauso Gerhard Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ.
"Ein schöner, berührender, in jeder Zeile glaubhafter, weil herzblutbeglaubigter Text",
schwärmte Stadelmaier, machte Gotscheffs Inszenierung jedoch als
"Familienschnipselgottesdienst"
nieder.
"’Immer noch Sturm’ in Papierschnipsel zerlegt",
lautete die sprachlich verwandte Watschn, die Ulrich Weinzierl Gotscheff in der Tageszeitung DIE WELT gab.
Uwe Mattheis verriss in der Tageszeitung TAZ mit der Inszenierung gleich auch Handkes Werk:
"Aus einer Dichterseele die ganze Welt schöpfen, […] soll das, was bei Goethe, Tschechow und Bob Dylan gelang, in unserer Zeit noch einmal mit Handke gelingen? Zweifel sind angesagt an der Möglichkeit zum Dichterfürstentum - in Form und Inhalt. Das Marionettenspiel der Ahnen lässt das Individuum im Kollektiv der Sippe versinken."
Thomas Assheuer schließlich fand in der Wochenzeitung DIE ZEIT Gottscheffs Inszenierung passabel, nannte Handkes Stück aber einen
"Amoklauf gegen die moderne Gesellschaft".
Wer im Feuilleton Orientierung suchte, sah sich also mit allen vier möglichen Urteilskombinationen konfrontiert: Text gut und Inszenierung gut; Inszenierung schlecht, Text gut; Text schlecht, Inszenierung gut; und: beides schlecht.
Der Film der Woche, Woody Allens "Midnight in Paris", stieß vor allem auf Sympathie.
So in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, in der Christoph Egger schrieb, der Film zeige
"vergnüglich die Vergangenheit als Klischee der Gegenwart".
In der FAZ erklärte Andreas Platthaus:
"Das ist der Schlüssel zum neuen Film von Woody Allen: das Staunen. Es wird auch dem Zuschauer abverlangt - ein Staunen über die Dreistigkeit, mit der da eine Phantasie erzählt wird, die sich keinen Deut um Plausibilität schert. […] Zwei Drittel von ‚Midnight in Paris’ sind grandios."
Und die ZEIT schwärmte:
"Ein Traum aus Champagner".
Alptraumhaft ist seit Wochen die Lage in London, wo im Zeichen der Wirtschaftskrise Aufruhr und Gewalt ausgebrochen sind - was den Fotografen Wolfgang Tilmans, der an der Themse lebt, aber kaum irritiert.
"Trotz der extremen Situation und der erlebten Gewalt darf man nicht vergessen, dass London in Wirklichkeit die integrierteste Region ganz Europas, wenn nicht der Welt ist. Selbst New York ist segregierter. Selbstverständlich halten die Verkehrsbetriebe London Transport spezielle Uniformmützen für ihre karibischen Mitarbeiter bereit, Mützen, unter die beispielsweise Rastalocken passen",
bemerkte - irgendwie oberflächlich - Wolfgang Tillmans, wiederum in der ZEIT
In der TAGESZEITUNG ging Joachim Kersten auf die Frage ein, ob Gleiches wie in London ebenso "’bei uns’" passieren könne. Und siehe da: Es kann laut TAZ eher nicht passieren.
"Wer in Köln Nippes oder den entsprechenden Einwanderervierteln in Mannheim oder Berlin an türkischen Läden Feuer legt oder versucht, sie in Brand zu setzen, wird mit Ladenbesitzern und ihrer auch deutschstämmigen Kundschaft aneinandergeraten, vielleicht sogar bevor die Polizei eintrifft. Wir haben viele Integrationsprobleme, aber sie sind anders als die der Briten und Franzosen. Und momentan tut sich die deutsche Politik weder durch ‚Dirty-Harry’-Gehabe noch durch Vorschläge vom ‚Auskärchern’ der Problemzonen hervor." -
Der Weltzustand lässt sich wohl mit drei Worten beschreiben: Immer noch Sturm. Und so haben die Amerikaner, wie die Verfilmung der 40er-Jahre-Comicserie "Captain America" beweist, den guten alten Superhelden wiederentdeckt.
"Das Leben im frühen 21. Jahrhundert war bislang eine einzige große Depression. […] Dazu hat Amerika am 11. September 2001 ein neues Pearl Harbour erlebt […]. Also her mit einem neuen Captain America. Her mit einem moralisch eindeutigen Gegner: Ein Typ, der fieser ist als die Nazis? Perfekt",
bemerkte Jan Füchtjohann in der SZ zum Superhelden-Boom.
Zuletzt zurück zum Sommerloch. In einer ganzseitigen Untersuchung der Hitzefußbedeckung Flip-Flops erwähnte Alex Capus in der NZZ Leute, die in den Plastiklatschen bis in die Zürcher Bahnhofsstraße vordringen und behaupten,
"dass der Anblick eines gesunden, golden gebräunten nackten Fusses ästhetisch höher einzustufen sei als jener eines leichenblassen Schweissfusses in schwarzen Lederschuhen, dessen Unappetitlichkeit zwar bedeckt und unsichtbar, deswegen aber doch nicht inexistent sei."
Ihnen, liebe Hörer, noch viele heiße Sommertage.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG stellte Dirk Schümer die in Italien entdeckte Saisonkrankheit
"summer sadness",
also etwa ‚Sommertraurigkeit’, vor.
Laut Schümer betrifft sie
"vor allem Frauen über Fünfunddreißig und äußerst sich in Depressionen und Panikattacken, zuweilen auch Ess-Anfällen und Alkoholexzessen."
Verantwortlich für summer sadness sei allzu viel Helligkeit.
"Die kommt über die Augen beim Hirn an und führt zu verkehrten Ausschüttungen von Melatonin, was dann wieder das mentale Gleichgewicht übel erschüttert."
In Deutschland, konstatierte Schümer, sei eine summer sadness-Epidemie indessen kaum zu befürchten. Denn merke:
"Für eine Sommerdepression muss es erst einmal so etwas wie Sommer geben."
Das zum Wetter. Und nun zu "Immer noch Sturm", der dramatischen Erzählung von Peter Handke, deren Titel auf eine Regieanweisung Shakespeares in "King Lear" zurückgeht.
"Immer noch Sturm" handelt von Geschichte generell und im Besonderen von Sloweniens Kriegs- und Nachkriegsgeschichte sowie Handkes Familiengeschichte.
Sämtliche Feuilletons besprachen die Uraufführung, bei der Dimiter Gotscheff im Rahmen der Salzburger Festspiele Regie geführt hatte. Als den
"vielleicht wichtigsten und besten Theatertext Handkes",
lobte Christopher Schmidt in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG die Vorlage und bemerkte zur Aufführung:
"Sie macht ernst mit dem Spiel. Sie bläst einen Sturm in die Herzen, der falsche Wahrheiten entlaubt und uns zu Partisanen macht des Dichters."
Die pathetische Wortstellung "und uns zu Partisanen macht des Dichters" deutet an, dass der SZ-Autor von Handke ordentlich bekifft war.
Genauso Gerhard Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ.
"Ein schöner, berührender, in jeder Zeile glaubhafter, weil herzblutbeglaubigter Text",
schwärmte Stadelmaier, machte Gotscheffs Inszenierung jedoch als
"Familienschnipselgottesdienst"
nieder.
"’Immer noch Sturm’ in Papierschnipsel zerlegt",
lautete die sprachlich verwandte Watschn, die Ulrich Weinzierl Gotscheff in der Tageszeitung DIE WELT gab.
Uwe Mattheis verriss in der Tageszeitung TAZ mit der Inszenierung gleich auch Handkes Werk:
"Aus einer Dichterseele die ganze Welt schöpfen, […] soll das, was bei Goethe, Tschechow und Bob Dylan gelang, in unserer Zeit noch einmal mit Handke gelingen? Zweifel sind angesagt an der Möglichkeit zum Dichterfürstentum - in Form und Inhalt. Das Marionettenspiel der Ahnen lässt das Individuum im Kollektiv der Sippe versinken."
Thomas Assheuer schließlich fand in der Wochenzeitung DIE ZEIT Gottscheffs Inszenierung passabel, nannte Handkes Stück aber einen
"Amoklauf gegen die moderne Gesellschaft".
Wer im Feuilleton Orientierung suchte, sah sich also mit allen vier möglichen Urteilskombinationen konfrontiert: Text gut und Inszenierung gut; Inszenierung schlecht, Text gut; Text schlecht, Inszenierung gut; und: beides schlecht.
Der Film der Woche, Woody Allens "Midnight in Paris", stieß vor allem auf Sympathie.
So in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, in der Christoph Egger schrieb, der Film zeige
"vergnüglich die Vergangenheit als Klischee der Gegenwart".
In der FAZ erklärte Andreas Platthaus:
"Das ist der Schlüssel zum neuen Film von Woody Allen: das Staunen. Es wird auch dem Zuschauer abverlangt - ein Staunen über die Dreistigkeit, mit der da eine Phantasie erzählt wird, die sich keinen Deut um Plausibilität schert. […] Zwei Drittel von ‚Midnight in Paris’ sind grandios."
Und die ZEIT schwärmte:
"Ein Traum aus Champagner".
Alptraumhaft ist seit Wochen die Lage in London, wo im Zeichen der Wirtschaftskrise Aufruhr und Gewalt ausgebrochen sind - was den Fotografen Wolfgang Tilmans, der an der Themse lebt, aber kaum irritiert.
"Trotz der extremen Situation und der erlebten Gewalt darf man nicht vergessen, dass London in Wirklichkeit die integrierteste Region ganz Europas, wenn nicht der Welt ist. Selbst New York ist segregierter. Selbstverständlich halten die Verkehrsbetriebe London Transport spezielle Uniformmützen für ihre karibischen Mitarbeiter bereit, Mützen, unter die beispielsweise Rastalocken passen",
bemerkte - irgendwie oberflächlich - Wolfgang Tillmans, wiederum in der ZEIT
In der TAGESZEITUNG ging Joachim Kersten auf die Frage ein, ob Gleiches wie in London ebenso "’bei uns’" passieren könne. Und siehe da: Es kann laut TAZ eher nicht passieren.
"Wer in Köln Nippes oder den entsprechenden Einwanderervierteln in Mannheim oder Berlin an türkischen Läden Feuer legt oder versucht, sie in Brand zu setzen, wird mit Ladenbesitzern und ihrer auch deutschstämmigen Kundschaft aneinandergeraten, vielleicht sogar bevor die Polizei eintrifft. Wir haben viele Integrationsprobleme, aber sie sind anders als die der Briten und Franzosen. Und momentan tut sich die deutsche Politik weder durch ‚Dirty-Harry’-Gehabe noch durch Vorschläge vom ‚Auskärchern’ der Problemzonen hervor." -
Der Weltzustand lässt sich wohl mit drei Worten beschreiben: Immer noch Sturm. Und so haben die Amerikaner, wie die Verfilmung der 40er-Jahre-Comicserie "Captain America" beweist, den guten alten Superhelden wiederentdeckt.
"Das Leben im frühen 21. Jahrhundert war bislang eine einzige große Depression. […] Dazu hat Amerika am 11. September 2001 ein neues Pearl Harbour erlebt […]. Also her mit einem neuen Captain America. Her mit einem moralisch eindeutigen Gegner: Ein Typ, der fieser ist als die Nazis? Perfekt",
bemerkte Jan Füchtjohann in der SZ zum Superhelden-Boom.
Zuletzt zurück zum Sommerloch. In einer ganzseitigen Untersuchung der Hitzefußbedeckung Flip-Flops erwähnte Alex Capus in der NZZ Leute, die in den Plastiklatschen bis in die Zürcher Bahnhofsstraße vordringen und behaupten,
"dass der Anblick eines gesunden, golden gebräunten nackten Fusses ästhetisch höher einzustufen sei als jener eines leichenblassen Schweissfusses in schwarzen Lederschuhen, dessen Unappetitlichkeit zwar bedeckt und unsichtbar, deswegen aber doch nicht inexistent sei."
Ihnen, liebe Hörer, noch viele heiße Sommertage.