Von Arno Orzessek

Um vier Frauen geht es diesmal in den Feuilletons, zwei davon tot und zwei lebendig.
Um vier Frauen wird es gehen, zwei davon tot und zwei lebendig.

Über den Herbst des Lebens von Teofila Reich-Ranicki, die mit 91 Jahren in Frankfurt gestorben ist, schreibt Frank Schirrmacher in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:

„Sie war dabei, wann immer man Marcel Reich-Ranicki zu Hause besuchte, im Sofa ganz links sitzend, kein Wort verpassend, jede Stimmung registrierend, ihr phänomenales Gedächtnis beisteuernd, im Wortsinn: damit man Kurs hielt auf der Meerfahrt der Erinnerungen, Assoziationen, Anekdoten. ‚Das weiß Tosia‘, pflegte Marcel Reich-Ranicki dann zu sagen. Tosia erinnerte sich an alles. Doch mit ihrem Leben war es so bestellt, dass das keine Gnade war, sondern eine Schrecken.“

So Frank Schirrmacher.

Die junge Tosia, gebildet, musikalisch, eine Künstlerin, hatte das Warschauer Getto erlebt und erlitten – indessen nicht allein, wie Ulrich Weinzierl in der Tageszeitung DIE WELT unterstreicht:

„Zu den großen Wundern der Schreckensgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zählt, dass Teofila und Marcel Reich-Ranicki gemeinsam die Ermordung der Juden durch die deutsche Vernichtungsmaschinerie überlebten. Zu den kleinen, dass sie mehr als 65 Jahre nach der Befreiung aus dem Kellerversteck ein Paar blieben – sie nicht ohne ihn zu denken, er nicht ohne sie.“

In jungen Jahren hingebungsvolle Nationalsozialistin und später um Vertuschung der braunen Flecken überaus bemüht war die 2002 verstorbene Schriftstellerin Luise Rinser, 1984 Kandidatin der Grünen für das Amt des Bundespräsidenten, das dann Richard von Weizsäcker übernahm.

Rinsers 100. Geburtstag ist das Top-Thema in den Feuilletons, zumal im S. Fischer Verlag eine neue Biographie erschienen ist: „Luise Rinser. Ein Leben in Widersprüchen“ von José Sánchez de Murillo.

Helmut Böttiger, Rezensent der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, hat an Sánchez’ Werk über Rinser viel auszusetzen:

„Der Biograf hält ihrer Anfälligkeit für die Nazis etwas Ursprünglich-Katholisches entgegen, das viel stärker gewesen sei. So kann er auch ihre herausgehobene Funktionärsrolle als Nazi-Ausbilderin von Lehrerinnen und BDM-Führerin letztlich bagatellisieren, selbst Gedichtzeilen wie ‚Wir, des großen Führers gezeichnet Verschworene‘ oder: ‚Kühl, hart und wissend ist dies wahre Geschlecht, / Nüchtern, und heiliger Trunkenheit voll. / Tod oder Leben, ein Rausch, gilt uns gleich – / Wir sind Deutschlands brennendes Blut!‘“

Das klingt nun wirklich finster. Doch laut SZ-Autor Böttiger betreibt Rinser-Biograf Sánchez die Ehrenrettung der Schriftstellerin:

„Hitler sei ein Dämon gewesen, der das unschuldige deutsche Volk wie auch die unschuldig-leidenschaftliche Luise Rinser arglistig getäuscht habe: ‚Wie eine Schlange lauerte er seiner Beute auf und biss zu, wenn er ihrer sicher war‘“,

zitiert Helmut Böttiger den offenbar zu Klischees neigenden Sánchez de Murillo.

Anja Hirsch, Autorin der FRANKFURTER RUNDSCHAU, zieht von der braunen zur mehr oder weniger grünen Luise Rinser eine Verbindungslinie.

„Tatsächlich begreift man Rinser nach der Lektüre der Biographie zu allererst als Phänomen: Nicht nur zu verdrängen, sondern im Gegenteil sogar in die andere Richtung zu übertreiben, scheint ihr Weg gewesen zu sein – was schließlich in die Friedensbewegung führte, aber eben auch zur Verklärung eines totalitären Systems wie Nordkorea, einer Idee.“

Bleiben nach den toten noch die lebendigen Frauen.

„Lady Gaga oder Anna Netrebko – wer verfügt über mehr kulturelles Kapital, und wie wird es errechnet?“

fragt die Unterzeile des FAZ-Artikels „Die Superreichen der Aufmerksamkeit.“

Das Werk ist leider eine Enttäuschung. Ingeborg Harms fasst eine Nummer der Zeitschrift für Didaktik zusammen, lässt die bewusste Frage aber immerhin vom Wiener Architekturprofessor Georg Franck beantworten.

„'Obwohl sie sicher nicht so distinguiert ist wie die Netrebko, ist Lady Gaga reicher sowohl an kulturellem als auch sozialem Kapital.‘“

Liebe Freunde der Hochkultur: Lassen Sie sich von solchen fadenscheinigen Berechnungen nur ja nicht irre machen!