Von Arno Orzessek

Ronald D. Gerste unterstellt den Amerikanern in der "NZZ" ein "Geschichtsbild mit Weichzeichner" im Blick auf das 150-jährige Jubiläum des Bürgerkriegs. Mehrere Zeitungen besprechen das Konzert der Punkrock-Band Slime in Berlin. Die "SZ" berichtet über die Napoleon-Ausstellung in Bonn.
"Deutschland verrecke", heißt in der BERLINER ZEITUNG eine Überschrift, die ohne Anführungszeichen auskommt. Dennoch gibt sie weder Autor- noch Redaktionsmeinung wieder. Sie ist ein Zitat.

"Deutschland verrecke" gehört zu dem linksradikalen Liedgut, das die Hamburger Punkrock-Band Slime im Kreuzberger SO 36 vorgetragen hat - wenn auch nicht das Lied selbst; das wurde ihr nämlich verboten.

Jens Balzer hat das SO 36 nicht zuletzt auf Promis gescannt:

"Im Getümmel vor mir schunkelt der Gründer des Tresor-Clubs, Dimitrij Hegemann, mit einem leitenden Angestellten des Axel Springer Verlags, der sich besonders an dem Stück 'linke Spießer' erfreut."

Neben "Deutschland verrecke" steht, bebildert mit einem Kätzchen, das über eine Klaviertastatur tapst, der Artikel "Atonal mit Youtube-Kätzchen". Kito Nedo untersucht die Renaissance der Netzkunst und stellt den New Yorker Künstler Cory Arcangel so vor:

"Ebay-Archäologie, Youtube-Sampling, Blog-Recycling und Twitter-Prosa - Arcangel beherrscht die neuen Kulturtechniken."

Im dritten Artikel auf selbiger Seite berichtet Peter Uehling von "Into the dark", einer Produktion der Zeitgenössischen Oper Berlin.

"Es geht um 'bewegte Klänge in absoluter Dunkelheit', das heißt, dass die Streicher des Ensemble Kaleidoskop auswendig spielen und sich auf vorbereiteten Wegen von blinden Guides zwischen den Liegen [der Zuhörer] führen lassen. 'Ich kann keine Musik mehr sehen' steht auf den Einladungskarten, und der Kritiker fühlt sich [...] endlich mal [...] verstanden","

bemerkt Peter Uehling, der auf der Musik-Liege schöne Erfahrungen gemacht hat:

""Wie ein finsterer Meteor schlägt [...] schlägt Mozarts Adagio-Präludium zu seiner Fuge in c-Moll ein, ein mit Kontrabass beschwerter Gravitationskern, der die Klänge und Tonalitäten um sich und in sich zusammenzieht."

Aufmerksame Hörer werden nun fragen, ob sich die Feuilleton-Produktion des Tages auf eine einzige Seite in der BERLINER ZEITUNG beschränkt. Natürlich nicht! Die Seite gefiel uns, einfach so ...

... und nun blättern wir die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG auf. Gustav Seibt verschweigt nach dem Besuch der Bonner Ausstellung "Napoleon und Europa - Traum und Trauma" keineswegs die vielen Toten, die auf Bonapartes Rechnung gehen, lässt sich aber doch gefangen nehmen von dem "welthistorischen Individuum", wie Hegel solche Typen nannte.

"Napoleon war der Sturm, der die industrielle Welt der nationalen Massengesellschaft erst möglich gemacht hat, übrigens nicht nur materiell, sondern auch geistig. Dass Deutschland und Italien [...] 'national' geworden sind, wären ohne diese Erfahrung kaum vorstellbar. Napoleon hat die Energien geweckt, die erst 1945 ganz ausgebrannt sind","

schreibt, wie entflammt, der SZ-Autor Seibt - und auch sein Artikel sei empfohlen.

Ein "Geschichtsbild mit Weichzeichner" unterstellt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG Ronald D. Gerste vielen Amerikanern im Blick auf das 150-jährige Jubiläum des Bürgerkriegs.

""Die Problematik der Sklaverei wird da und dort schlicht unter den Tisch gekehrt. Das zeigt sich nicht nur beim geplanten 're-enactment' der Vereidigung des Sklavenhalters Jefferson Davis oder einem 'Sezessionsball' in Charleston, wo fröhlicher Tanz und Trunk angesagt ist an einem Ort, von dem das Grauen des Bruderkriegs seinen Ausgang nahm. [...] Das 'whitewashing' [...] der [Südstaaten-]Konföderation ist bei konservativen Politikern inzwischen fast Routine geworden","

berichtet der NZZ-Autor Ronald D. Gerste - und wer je bürgerkriegsbegeisterte Amerikaner kanonendonnerselig über die alten Schlachtfelder stolzieren sah, wird das alles unterschreiben.

Zur Abwehr von falschem Nationalismus "Deutschland verrecke" zu rufen, ist natürlich keine Lösung - und damit zurück zum Konzert von Slime im SO 36.

In der Tageszeitung DIE WELT beschreibt Sonja Vogel das Ende des Abends, als das Publikum jenes Lied sang, das Slime nicht singen darf:

""Ein erhebender Moment, Massenhysterie. Alle wollen den Umsturz. Dann eilen sie zur Garderobe. Schnell die Mäntel holen, bevor es eine Schlange gibt."

In diesem Sinne, liebe Hörer: Bleiben Sie ganz gelassen, wenn Sie mal "Deutschland verrecke" hören. Es könnte Ihr Reihenhausnachbar sein, der da singt.