Von Arno Orzessek

Der leere Stuhl von Oslo ist eines der Themen der Woche. Die "Süddeutsche Zeitung" veröffentlichte ein Gedicht des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, während sich die "FAZ" mit der Haltung der chinesischen Führung beschäftigte.
Es war die Woche, in der in Oslo ein leerer Stuhl den Friedensnobelpreis erhielt. Der Stuhl nämlich, auf dem Liu Xiaobo hätte sitzen können oder sollen, wenn er nicht in China im Gefängnis sitzen müsste.

Chinesische Blogger witzelten schon, China werde das erste Land in der Geschichte sein, in dem es strafbar ist, "leerer Stuhl" zu sagen.

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG druckte neben einem Foto-Porträt ein Gedicht Liu Xiaobos ab, das von Gefangenschaft handelt. Darin heißt es:

"Doch schwebe ich noch immer im Tod
Ein Schweben im Ertrinken
Zahllose Nächte hinter vergitterten
Fenstern
Und die Gräber unter dem Sternenlicht -
haben
Meine Albträume offenbart
Abgesehen von einer Lüge
Besitze ich nichts"

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG untersuchte Mark Siemons die Haltung der chinesischen Führung:

"So legt sich das offizielle China den Nobelpreis zurecht: als westliche Verschwörung gegen den unwillkommenen Mitbewerber. Von dem Inhalt des Universalismus, für den Liu Xiaobo steht, war bei diesen Attacken nicht einmal andeutungsweise die Rede."
FAZ-Autor Siemons betonte, dass viele Chinesen die schiefe Sicht ihrer Regierung übernähmen und sich nicht dafür interessieren, warum Liu Xiaobo angeblich ein Krimineller ist.

"Stattdessen [so Siemons] hört man häufig die Bemerkung, dass alle Norweger bequem in Peking Platz fänden: Eine politische Position wird da allein auf die Kategorien von Grö¬ße und Macht zurückgeführt."

In der TAGESZEITUNG äußerte sich der chinesische Regimekritiker Ai Weiei über den Reformappell "Charta 08", dessen Mitverfasser Liu ist.

"Solche Manifeste kommen selbst aus einer kulturellen Elite, die normalerweise keine Verbindung zum täglichen Überlebenskampf der Menschen hat. […] Die Gruppe um Liu, welche die Charta verfasste, besteht vor allem aus Akademikern, die sich nicht wirklich darum sorgen, was im schwierigen Alltag der Menschen passiert, wie etwa kürzlich das Großfeuer in Schanghai, das Erdbeben in Sichuan 2008 oder die Bergbauunglücke. Solche Probleme werden nicht allein durch Demokratisierung beseitigt, sondern müssen direkt angegangen werden","

bemerkte Liu-Kritiker Ai Weiwei in der TAZ.

Dass Nobelpreisträger keineswegs sakrosankt sind, das hätte bei der Lektüre der hiesigen Feuilletons auch Mario Vargas Llosa zu spüren bekommen. Seine Rede anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises wurde mehrheitlich verrissen.

""Was sich an Phrasen über Macht, Kraft, Größe und Zauber der Literatur in der Rede des Nobelpreisträgers alles tummelt, überschreitet dann doch die dem Anlass zu schuldende Toleranzgrenze. Zumal es sich um eine subtile Form von Eigenlob handelt, verpackt in Bescheidenheitsgesten und die Reverenz an weltliterarische Vorbilder","

kritisierte Richard Kämmerlings in der WELT.

Noch mürrischer äußerte sich Burkhard Müller in der SZ. Selbst Vargas Llosas persönlichste Erinnerungen fand Müller "konfektioniert", und er fragte:

""Wen hasste [Vargas Llosa einst], woran litt er? Dazu äußert sich der Preisträger leider nicht. Dem Mangel an Spezifika, den er offenbar doch verspürt, sucht er durch übertriebene Emphase aufzuhelfen; das Schreiben eines Romans bezeichnet er als Erfahrung, ‚die mich erfüllt und taumeln lässt wie ein über Tage, Wochen und Monate andauernder Liebesakt mit der geliebten Frau’. Eine Vorstellung, die nicht angenehm berührt und die man ihm nicht abnimmt. Nein, Mario Vargas Llosa hat am Dienstag in Stockholm keine gute Rede gehalten","

legte sich SZ-Autor Burkhard Müller fest.

Ein anderer Großer aus einem anderen Genre, der Dirigent Christian Thielemann, wurde dagegen zumeist gelobt. Er hatte mit den Wiener Philharmonikern alle neun Beethoven-Sinfonien aufgeführt, zunächst in Paris, dann in Berlin.

In der WELT begeisterte sich Manuel Brug:

""Thielemann, der mit ein paar pedantisch faden Londoner Beethoven-Aufnahmen in den späten Neunzigern enttäuscht hatte, gab sich absolut verliebt in den butterzarten Holzbläserton, ließ die heiklen Wiener Hörner mitunter beinahe jodeln, blieb licht und leuchtend. Seine Tempi waren scharf kontrastiv, durchaus gemessen, aber selten nur wirklich gefühlt langsam. ‚Er wiederholt sich nicht’. So schlicht, aber so treffend lautet am Ende die jüngste Thielemannsche Beethoven- Erkenntnis."

Mindestens genauso großen Enthusiasmus zeigte in der BERLINER ZEITUNG Jens Balzer über die "Night of the Proms", eine offenbar sehr schräge Berliner Klassik-Pop-Konzertnacht mit Kid Creole, Cliff Richard, Boy George und der Band Lichtmond.

Über den Augenblick, in dem Kid Creole an the Coconuts eine "Interpretation des Ballettbegleitungslieds ‚Schwanensee’" vortrugen, schrieb Balzer eine der längsten Wortschlangen der Woche:

"Kaum sind die wesentlichen Motive ausgetriggert, klettern auch schon wieder Licht¬mond auf die Bühne und legen einen flotten Tanzrhythmus darunter, die Sängerin ruft ‚Ich bin die Frühlingstänzerin’ mit einem rollenden ‚R’ nach der Art der Band Rammstein - "Frrrrühlingstänzerin’ - und der Fadenbartrapper mit der heruntergepitchten Stimme reimt raunend ins Mikrofon ‚Deine tastenden Brüste heben und senken sich zugespitzt’, ein Satz, über den man lange nachdenken kann, während die Band wieder und wieder ‚Schwanensee’ spielt’."

Wir haben - nur so nebenbei - die Hilfe von Kollegen benötigt, um den unerklärlichen Fadenbar-Trapper als Fadenbart-Rapper zu enttarnen.

Das zu enthüllen, was die Mächtigen im Verborgenen machen, ist die Leidenschaft von Julian Assange. Der Wikileaks-Initiator stellte sich in der vergangenen Woche der britischen Polizei - und in der FAZ schrieb Lorenz Jäger im Nachruf-Ton:

""Das geputzte Aquarium der weltpolitischen Urteile [von US-Diplomaten] und, vor allem, der kurze Film über die Liquidierung einer Gruppe von Zivilisten im Irak aus einem Hubschrauber hinaus: Das wird, was immer nun mit Assange geschieht, […] als bleibendes Verdienst dieses Mannes im Gedächtnis bleiben."

Vor dem Hintergrund der Vergewaltigungsvorwürfe, die in Schweden gegen Assange erhoben werden, wüsste man gern, welches Handy der Inkriminierte benutzt. Man kann daran nämlich ‚gut’ und ‚böse’ erkennen…. suggerierte zumindest folgende Überschrift in der WELT:

"Böse Menschen haben keine iPhones."