Von Arno Orzessek
Schimmelpfennige in Berlin und Hamburg beschäftigen die geballte Theaterkritik. Ein Theologe wird zum Opernzwischenrufer, im Springer-Hochhaus hört man die Signale des Heiligen Krieges. DIE WELT wägt, wem Kondome für Strichjungen nützen könnten.
Zur Einstimmung auf den ersten Advent zunächst ein Weihnachtsgedicht des walisischen Lyrikers R. S. Thomas, aufgespießt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:
"Die Liebe klopft mit bereiften Fingern an. / Ich schaue hinaus. Im Schatten / eines so riesigen Gottes fröstle ich, unfähig / das Kind wahrzunehmen vor lauter Weiss."
Wir bleiben beim Allmächtigen, wechseln aber die Kunstgattung.
Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes heißt das Theaterstück von Ronald Schimmelpfennig, dessen deutscher Erstaufführung in Berlin in der Regie von Martin Kusej schon am nächsten Abend die Zweitaufführung im Hamburger Thalia Theater unter Wilfried Minks folgte.
Viele Feuilletons reagierten mit einer Doppelkritik.
In der Tageszeitung DIE WELT stellten Monika Nellissen und Ulrich Weinzierl Peggy Pickit als ein Fräulein "aus dem edlen Geschlecht derer von Barbie [vor]. Ein blondes Püppchen zum Liebhaben und Gliederverrenken."
Über die Berliner Aufführung stöhnte das Kritiker-Duo:
"Das Problem des etwas schwerfälligen Abends sind keineswegs die vortrefflichen Schauspieler. Niemand zweifelt ihre Präzision an. Es liegt eher in einer Tendenz zum Überdeutlichen, zum gewollt Bedeutsamen. Kurzum: Auf der Berliner Produktion lastet das ganze Gewicht der Dritten Welt, des schlechten Gewissens."
Ganz anders die Hamburger Peggy Pickit:
"Schnell, unterhaltsam, bissig, formal streng und doch emotional präsentiert […] [Minks] das Stück als Gesellschaftssatire mit Beunruhigungsfaktor. Weder moralische Wertung noch Bedeutungshuberei befrachten das ohnehin mit Klischees und Vorurteilen beladene Sujet."
So Nellissen und Weinzierl in der WELT.
Der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG reichte für zwei Aufführungen eine Kritikerin, nämlich Christine Dössel. Sie war mit der Berliner Peggy sehr unzufrieden und mit der Hamburger nur etwas weniger:
"Immerhin: Bei Minks dürfen die Schauspieler in ihren Konferenz-Schalensesseln menscheln und manchmal sogar schwächeln. Das tut dem Stück gut, und doch verläppert es sich auch hier im Betroffenheitsdisput."
Wolfgang Huber, ehemals Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche, ist unter die Opernkritiker gegangen.
In der Wochenzeitung DIE ZEIT klagte Huber über die Tendenz, auf der Bühne das zu verhöhnen, "was Christen heilig ist", und führte vor allem die Inszenierung von Mozarts Don Giovanni in der Deutschen Oper Berlin an.
"So lange es nicht um den Islam geht, scheint das Heilige Regisseuren wie Publikum inzwischen egal zu sein. Doch solche Gleichgültigkeit ändert nichts daran: Heilig ist das Gegenteil von egal. Die Christen hierzulande sollten deshalb ihre eigenen religiösen Überzeugungen und Gefühle wieder ernst nehmen. […] Der Islam kann schließlich nicht zur einzigen Religion werden, mit der man in Deutschland respektvoll umgeht - und das auch noch aus Angst","
wetterte Opern-Freund Huber in der ZEIT.
""Der Westen und das höhnische Lachen des Islamismus" hieß der zweiseitige Zwölfspalter von Mathias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG, in der WELT. Döpfner schrieb unter anderem:
"Der 11. September war das Menetekel eines Heiligen Kriegs gegen unsere westlich-freiheitliche Lebensform. Entweder wir haben die Symbolik des gefallenen World Trade Centers verstanden und nehmen den Kampf an. Oder wir sind verloren."
Döpfners mehrfacher Gleichsetzung von Kapitalismus und Freiheit würde Jordan Mejias kaum beipflichten. Der Autor der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erklärte, dass Freiheit für viele Amerikaner "nur noch ein anderes Wort für Steuersenkung ist". ‚Freiheit’ wie auch ‚Unabhängigkeit’ seien von den Republikanern in "rhetorische Allzweckwaffen" verwandelt worden.
… so auch im ersten Satz von Sarah Palins Buch An American Awakening: "’Do you love your freedom?’" - ‚Liebst du deine Freiheit?’
Ähnlich wie Palin hat der Papst etwas gegen freizügige Sexualität, genauer, gegen Sex generell, sofern dieser nicht der Zeugung dienen könnte - was bei Schwulen ausgeschlossen ist.
Dass Benedikt XVI. nun ausgerechnet männlichen Prostituierten den Kondomgebrauch erlaubt, wurde teils kopfschüttelnd, teils boshaft kommentiert.
"Die paradoxe Bevorzugung einer Berufsgruppe […] verleitet zu zynischen Interpretationen. Schließlich ist, wenn man dem schwulen katholischen Theologen David Berger glaubt, ein Großteil des katholischen Klerus homosexuell. So mancher Kirchenmann bedient sich in seiner Not eines Strichjungen. So könnte der päpstliche Dispens eine Schutzmaßnahme für das eigene Personal darstellen","
mutmaßte Alan Posener in der WELT.
Wir erreichen die Zielgerade mit Max Müller, dem Sänger der Berliner Band Mutter, der im Interview mit selbiger WELT sagte:
""’Die Zeit, in der wir leben, ist völlig aus den Fugen.’"
Dieses Zeitgefühl teilt das französische Autorenkollektiv, das ihr Manifest Der kommende Aufstand mit dem dunklen Satz beginnen ließ:
"Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg."
SZ und FAZ hatten den Text freundlich rezensiert, hatten von "Aura der Hellsichtigkeit", von "heroischer Melancholie" geschwärmt - und wurden dafür in der TAZ von Johannes Thumfart abgestraft, der die Manifest-Autoren als antimoderne Hetzer vom rechten Rand geißelte.
"Gegen eine angebliche ‚Normalisierung des Lebens’ in den modernen Gesellschaften […] [suchen sie] das vitalistische Heil im ‚Ausnahmezustand’ jenseits von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft - diese Idee einer besseren Zeit minus aller Koordinaten der Gegenwart hat man [Carl] Schmitt und Heidegger zu verdanken, ebenso die Suche nach einem versteckten Totalitarismus der Demokratie. […] Dass das ‚linke’ Gedanken sind, kann niemand ernsthaft behaupten."
Die Zeit ist also auf den Fugen. Da trifft es sich gut, dass Joachim Sartorius in der Frankfurter Anthologie der FAZ das Gedicht Vberschrifft an dem Tempel der Sterbligkeit von Andreas Gryphius vorstellt. Wir schließen mit Gryphius’ Anfangszeilen:
"’IHr irr’t in dem ihr lebt / die gantz verschränckte Bahn
Läst keinen richtig gehn. Diß / was ihr wüntscht zu finden
Ist Irrthumb: Irrthumb ists / der euch den Sinn kan binden.
Was euer Hertz ansteckt / ist nur ein falscher Wahn.’"
"Die Liebe klopft mit bereiften Fingern an. / Ich schaue hinaus. Im Schatten / eines so riesigen Gottes fröstle ich, unfähig / das Kind wahrzunehmen vor lauter Weiss."
Wir bleiben beim Allmächtigen, wechseln aber die Kunstgattung.
Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes heißt das Theaterstück von Ronald Schimmelpfennig, dessen deutscher Erstaufführung in Berlin in der Regie von Martin Kusej schon am nächsten Abend die Zweitaufführung im Hamburger Thalia Theater unter Wilfried Minks folgte.
Viele Feuilletons reagierten mit einer Doppelkritik.
In der Tageszeitung DIE WELT stellten Monika Nellissen und Ulrich Weinzierl Peggy Pickit als ein Fräulein "aus dem edlen Geschlecht derer von Barbie [vor]. Ein blondes Püppchen zum Liebhaben und Gliederverrenken."
Über die Berliner Aufführung stöhnte das Kritiker-Duo:
"Das Problem des etwas schwerfälligen Abends sind keineswegs die vortrefflichen Schauspieler. Niemand zweifelt ihre Präzision an. Es liegt eher in einer Tendenz zum Überdeutlichen, zum gewollt Bedeutsamen. Kurzum: Auf der Berliner Produktion lastet das ganze Gewicht der Dritten Welt, des schlechten Gewissens."
Ganz anders die Hamburger Peggy Pickit:
"Schnell, unterhaltsam, bissig, formal streng und doch emotional präsentiert […] [Minks] das Stück als Gesellschaftssatire mit Beunruhigungsfaktor. Weder moralische Wertung noch Bedeutungshuberei befrachten das ohnehin mit Klischees und Vorurteilen beladene Sujet."
So Nellissen und Weinzierl in der WELT.
Der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG reichte für zwei Aufführungen eine Kritikerin, nämlich Christine Dössel. Sie war mit der Berliner Peggy sehr unzufrieden und mit der Hamburger nur etwas weniger:
"Immerhin: Bei Minks dürfen die Schauspieler in ihren Konferenz-Schalensesseln menscheln und manchmal sogar schwächeln. Das tut dem Stück gut, und doch verläppert es sich auch hier im Betroffenheitsdisput."
Wolfgang Huber, ehemals Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche, ist unter die Opernkritiker gegangen.
In der Wochenzeitung DIE ZEIT klagte Huber über die Tendenz, auf der Bühne das zu verhöhnen, "was Christen heilig ist", und führte vor allem die Inszenierung von Mozarts Don Giovanni in der Deutschen Oper Berlin an.
"So lange es nicht um den Islam geht, scheint das Heilige Regisseuren wie Publikum inzwischen egal zu sein. Doch solche Gleichgültigkeit ändert nichts daran: Heilig ist das Gegenteil von egal. Die Christen hierzulande sollten deshalb ihre eigenen religiösen Überzeugungen und Gefühle wieder ernst nehmen. […] Der Islam kann schließlich nicht zur einzigen Religion werden, mit der man in Deutschland respektvoll umgeht - und das auch noch aus Angst","
wetterte Opern-Freund Huber in der ZEIT.
""Der Westen und das höhnische Lachen des Islamismus" hieß der zweiseitige Zwölfspalter von Mathias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG, in der WELT. Döpfner schrieb unter anderem:
"Der 11. September war das Menetekel eines Heiligen Kriegs gegen unsere westlich-freiheitliche Lebensform. Entweder wir haben die Symbolik des gefallenen World Trade Centers verstanden und nehmen den Kampf an. Oder wir sind verloren."
Döpfners mehrfacher Gleichsetzung von Kapitalismus und Freiheit würde Jordan Mejias kaum beipflichten. Der Autor der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erklärte, dass Freiheit für viele Amerikaner "nur noch ein anderes Wort für Steuersenkung ist". ‚Freiheit’ wie auch ‚Unabhängigkeit’ seien von den Republikanern in "rhetorische Allzweckwaffen" verwandelt worden.
… so auch im ersten Satz von Sarah Palins Buch An American Awakening: "’Do you love your freedom?’" - ‚Liebst du deine Freiheit?’
Ähnlich wie Palin hat der Papst etwas gegen freizügige Sexualität, genauer, gegen Sex generell, sofern dieser nicht der Zeugung dienen könnte - was bei Schwulen ausgeschlossen ist.
Dass Benedikt XVI. nun ausgerechnet männlichen Prostituierten den Kondomgebrauch erlaubt, wurde teils kopfschüttelnd, teils boshaft kommentiert.
"Die paradoxe Bevorzugung einer Berufsgruppe […] verleitet zu zynischen Interpretationen. Schließlich ist, wenn man dem schwulen katholischen Theologen David Berger glaubt, ein Großteil des katholischen Klerus homosexuell. So mancher Kirchenmann bedient sich in seiner Not eines Strichjungen. So könnte der päpstliche Dispens eine Schutzmaßnahme für das eigene Personal darstellen","
mutmaßte Alan Posener in der WELT.
Wir erreichen die Zielgerade mit Max Müller, dem Sänger der Berliner Band Mutter, der im Interview mit selbiger WELT sagte:
""’Die Zeit, in der wir leben, ist völlig aus den Fugen.’"
Dieses Zeitgefühl teilt das französische Autorenkollektiv, das ihr Manifest Der kommende Aufstand mit dem dunklen Satz beginnen ließ:
"Aus welcher Sicht man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ohne Ausweg."
SZ und FAZ hatten den Text freundlich rezensiert, hatten von "Aura der Hellsichtigkeit", von "heroischer Melancholie" geschwärmt - und wurden dafür in der TAZ von Johannes Thumfart abgestraft, der die Manifest-Autoren als antimoderne Hetzer vom rechten Rand geißelte.
"Gegen eine angebliche ‚Normalisierung des Lebens’ in den modernen Gesellschaften […] [suchen sie] das vitalistische Heil im ‚Ausnahmezustand’ jenseits von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft - diese Idee einer besseren Zeit minus aller Koordinaten der Gegenwart hat man [Carl] Schmitt und Heidegger zu verdanken, ebenso die Suche nach einem versteckten Totalitarismus der Demokratie. […] Dass das ‚linke’ Gedanken sind, kann niemand ernsthaft behaupten."
Die Zeit ist also auf den Fugen. Da trifft es sich gut, dass Joachim Sartorius in der Frankfurter Anthologie der FAZ das Gedicht Vberschrifft an dem Tempel der Sterbligkeit von Andreas Gryphius vorstellt. Wir schließen mit Gryphius’ Anfangszeilen:
"’IHr irr’t in dem ihr lebt / die gantz verschränckte Bahn
Läst keinen richtig gehn. Diß / was ihr wüntscht zu finden
Ist Irrthumb: Irrthumb ists / der euch den Sinn kan binden.
Was euer Hertz ansteckt / ist nur ein falscher Wahn.’"