Von Arno Orzessek

Wir kennen Jürgen Klopp, den Trainer von Borussia Dortmund, als rhetorisch begabten Fußball-Maniac. Nun tritt der zweifache Gewinner des Deutschen Fernsehpreises auch als Medientheoretiker hervor.
Wir kennen Jürgen Klopp, den Trainer von Borussia Dortmund, als rhetorisch begabten Fußball-Maniac ...

... und nun tritt der zweifache Gewinner des Deutschen Fernsehpreises in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG auch als Medientheoretiker hervor.

„Das Fernsehen bietet Bedeutungsmuster an. Wir tendieren deshalb dazu, jemandem, der dort in weißem Kittel und mit Birkenstock-Schuhen herumläuft, ein medizinisches Fachwissen zuzutrauen“,

erklärt Klopp dem Fußballreporter Freddie Röckenhaus, der uns im SZ-Feuilleton noch nie begegnet ist.

Was Kicken indessen mit Kunst zu tun haben kann – nämlich planmäßige Perfektion –, erschließt sich aus der Kloppschen Beschreibung eines Tores, das die Dortmunder jüngst bei St. Pauli erzielt haben. Und zwar indem sie, wie eingeübt, zu viert den Strafraum traktierten.

„Götze geht mit dem Ball zur Torauslinie, passt von der rechten Seite zurück, Richtung Elfmeterpunkt, wo Großkreutz steht „[erläutert Klopp im dramatischen Präsenz]. „Kevin könnte schießen, schießt aber nicht, sondern täuscht nur an, weiß aber, ohne zu gucken, dass Kagawa hinter ihm ganz frei stehen muss, weil das unser Spielzug so vorgibt. Kevin lässt also für Shinij durch, der den Ball flach in die Torecke schießt. Wäre der Ball an den Pfosten gegangen, dann steht dort verabredungsgemäß auch noch Bender [ ... ]. Eine vollkommene Szene. Ich habe das [Fernseh-]Bild abgespielt und war glücklich.“

So der Kunstkritiker Jürgen Klopp in der SZ.

Bleiben wir noch auf der Fernseh-Couch. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG reflektiert Andreas Platthaus „die ästhetische Erziehung des Menschen mit Botox und Prosecco“, wozu ihn der am Sonntag ausgestrahlte Jubiläums-Tatort mit dem Titel Unsterblich schön veranlasst.

Platthaus erfreut sich am großen Aufmarsch der TV-Prominenz, die zum Jubiläum mitspielt, und zunächst auch daran, dass sich viele Kommissare gut gehalten haben.

„So möchte man selbst gern alt werden – möchte man meinen. Und schon ist man auf der falschen Spur. Denn schön macht nicht glücklich. Weniger schön, das wird allerdings deutlich, leider auch nicht“,

bedauert der lebenskluge FAZ-Autor Andreas Platthaus ...

... und erlaubt uns den Sprung zu einem, der nicht weniger lebensklug war und vor 100 Jahren gestorben ist: Leo Tolstoi, seinerzeit – also vor Oliver Kahn – „der Titan“ genannt.

„Auch nach 100 Jahren noch packt einen das Mitleid, wenn man auf Leo Tolstois letzte Tage blickt: Ein Greis, gerade erst vom Totenbett wieder aufgestanden, verlässt verzweifelt und verwirrt sein Zuhause und seine Ehefrau. Er will ein neues Leben anfangen, mit 82 Jahren, was im Grunde nur heißt: Ruhe finden. Stattdessen stirbt er einen denkbar unruhigen Tod am Wegesrand, in einem fremden Bett“,

schreibt der angerührte Christian Esch in der BERLINER ZEITUNG.

Die Tageszeitung DIE WELT blickt in ihrer Beilage „Literarische Welt“ ebenfalls auf Tolstois letzte Züge. Rosemarie Tietze schreibt:

„Tolstoi [ist] nur noch zeitweise bei Bewusstsein, und in einem dieser Augenblicke sagt er zu seinen beiden Töchter: ‚Bitte denkt daran, es gibt ungeheuer viele Menschen auf der Welt, aber ihr schaut nur auf Lew.‘ Danach sind bloß Bruchstücke von seinem Gemurmel im Fieberwahn zu verstehen. [Leibarzt] Makovicky notiert: ‚Wie schwer ist es zu sterben‘ oder ‚Lasst mich in Ruhe ... . Davonlaufen ... .‘ Der Todeskampf dauert die ganze Nacht, erst am Morgen des 20. [ ... ] November ist er ausgestanden. Um 6 Uhr 5 hört Tolstois Herz zu schlagen auf.“

Soviel zum Gedenken an den Schriftsteller, dessen Roman Krieg und Frieden zu den größten Monumenten des 19. Jahrhunderts gehört.

Im benachbarten WELT-Artikel, erzählt Jacques Schuster, dass der Schauspieler Ulrich Noethen über die Hörbuch-Produktion des Romans „zum Philosophen geworden“ ist – nicht zuletzt, weil er auch den seitenlangen Abschweifungen ins Weltanschauliche etwas abgewinnen konnte.

Warum man sich ansonsten die 2000 Seiten Krieg und Frieden in 67 Stunden auf 54 CDs anhören soll – das erklärt die wahrhaft unzeitgemäße Überschrift ganz wunderbar:

„Tagelang Tolstoi – denn nur das Ausführliche unterhält“.