Von Arno Orzessek

Das Top-Thema in den Feuilletons ist Jonathan Franzens Roman "Freiheit". Die "Berliner Zeitung" nimmt Angela Merkels Vorschlag zum Fachkräfte-Mangel in den Pflegeberufen auf Korn. Die "FAZ" beschäftigt eine Medienpreis-Vergabe an den Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard.
Mal ehrlich, liebe Hörer: Haben Sie einen Schimmer, warum der 8. September 2010 ein "historisches Datum" und folglich "ein Tag für die Geschichtsbücher" wird?

Genau das behauptet Nils Minkmar in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG – und zwar, weil Angela Merkel auf Schloss Sanssouci den M100-Medienpreis der Potsdamer Journalistenvereinigung an den dänischen Mohammed-Karikaturisten Kurt Westergaard überreichen wird.

"Merkels Solidarität mit Westergaard, die einen hohen außenpolitischen Preis fordern könnte, inspiriert die Freiheitsbewegung im Iran und verleiht auch den internationalen Einsätzen der Bundeswehr eine symbolische Legitimation","

misst Minkmar der Medienpreis-Vergabe planetarische Bedeutung bei, unterstreicht aber auch die innenpolitische Dimension:

""So kurz nach [...] [Merkels] Einspruch gegen das pauschale Urteil von Thilo Sarrazin über die [...] Muslime kommt dieser symbolischen Handlung eine besondere dialektische Geltung zu: Hier halten wir uns von biologistischen Abqualifizierungen fern, dort feiern wir das so hart erworbene Recht auf freie und freche Meinungsäußerung. So steckt die Kanzlerin die breite republikanische und bürgerliche Fahrspur ab, die sich selbstbewusst zwischen [islamistischen] Bartträgern und den Hitzköpfen der anderen Seite eröffnet","

schwärmt FAZ-Autor Nils Minkmaar, dessen Pathos für unser Gefühl nicht frei von innerer Hohlheit ist.

Vielleicht muss man 30 Jahre warten und dann prüfen, ob die Preis-Vergabe vom 8. September 2010 in den Geschichtsbüchern gefeiert wird. Schon heute legen wir uns aber darauf fest, dass Minkmaars "selbstbewusste Fahrspur" eine Stilblüte ist.

Und weil wir gerade beim Motzen sind: Mal so richtig gegen Angela Merkel abledern, das will in der BERLINER ZEITUNG Sabine Vogel. Sie nimmt den Vorschlag der Bundeskanzlerin aufs Korn, dem Fachkräfte-Mangel in den Pflegeberufen mit katheterbeutelwechselnden Hartz-IV-Empfängern abzuhelfen und nennt das Ansinnen schon in der Überschrift "Die Verachtung des Sozialen".

Leider fällt Vogels Begründung derart konfus aus, dass man sie seriös kaum paraphrasieren kann. Weshalb wir uns von Angela Merkel ab- und Jonathan Franzen zuwenden. Dessen neuer Roman "Freiheit", der nun in der deutschen Übersetzung von Bettina Abarbanell und Elke Schönfeld erscheint, ist das Top-Thema in den Feuilletons.

In der FRANKFURTER RUNDSCHAU fasst Christopher Schröder den Inhalt des 736-Seiten-Buch wie folgt zusammen:

""'Freiheit' ist beides: Ein episch breites gesellschaftliches Panorama der vergangenen 30 Jahre, in dem Lebensentwürfe, Sehnsüchte, politische Haltungen und ökonomische Strategien sich aufbauen, aufeinanderprallen, zerplatzen. Und ein gelungener Versuch, den Freiheitsbegriff in all seinen Spielarten in alle Richtungen hin zu erkunden. Gleichzeitig aber auch, im Individuellen: eine Zurschaustellung der Lächerlichkeit menschlichen Daseins","

beschreibt FR-Autor Schröder Franzens Opus.

Jonathan Franzen ist ein leidenschaftlicher Vogelbeobachter - und das färbt auf Walter Berglund ab, eine Hauptfigur in "Freiheit". Berglund paktiert mit der Kohle-Industrie, um im Gegenzug seinen geschätzten Pappelwaldsänger ein Reservat zu sichern.

An diesen Passagen mäkelt in der TAGESZEITUNG Dirk Knipphals herum:

""Ganze Dialoge [lesen sich] wie nur mühsam literarisierte Abhandlungen über die Dilemmata des modernen Umweltschutzes. Die zynischen Kapitalvermehrungsdeals rund um den Irakkrieg holt Franzen dann auch noch mit hinein, schließlich soll [...] [das Buch] auch noch ein Porträt der US-amerikanischen Gesellschaft in den Nullerjahren sein."

Franzen selbst gibt in einem FAZ-Interview übrigens zu verstehen, dass er vom liebsten Klischee der Kritiker – dass so ein dicker Roman stets ein Gesellschafts- oder Epochen-Bild zeichnen will – wenig hält:

"'Ich kann mir als Romancier nicht vornehmen, das Land oder die Kultur zu porträtieren. Das ist höchstens ein Nebenprodukt der Geschichte.'"

Falls Sie nun noch nicht wissen, liebe Hörer, ob Sie Franzens "Freiheit" lesen sollen oder nicht, mag Ihnen ein Hinweis von Gregor Dotzauer im Berliner TAGESSPIEGEL helfen:

"Es wird überdies gevögelt, dass sich die Betten biegen."