Von Arno Orzessek

Neben dem "Papperlapapp" zur Eröffnung des Theaterfestivals von Avignon waren die beherrschenden Themen in den Feuilletons der vergangenen Woche: Gustav Mahler wird 150 und Deutschland doch nicht Fußballweltmeister.
"Lieber Bastian Schweinsteiger", begann am Ende der Woche ein offener Brief im Feuilleton der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.

Der Schriftsteller Martin Walser dankte dem deutschen Mittelfeldspieler so hingerissen wie überschwänglich - aber nicht etwa für dessen Spielkunst, sondern für die kunstvolle Niedergeschlagenheit nach dem 0:1 gegen Spanien.

Schweinsteiger war nach dem Abpfiff auf die Knie gesunken - und seinerseits wie auf Knien schrieb Walser im SZ-Feuilleton:

"Ich dachte, als ich Sie sah, nicht: Jetzt weint er. Oder: Jetzt betet er. Oder: Jetzt flucht er. Alles wäre verständlich gewesen. Ich habe [stattdessen] gedacht: So knien, so sich beugen kann nur einer, der gerade verloren hat. [...] Sie sollen wissen, Sie hätten uns durch keinen Sieg so faszinieren, so bannen, so für sich einnehmen können, wie durch dieses Hinknien."

Heijeijeijei, was für ein kolossaler Irrtum! ... haben wir bei der Lektüre gedacht.

Ein Sieg über die Präzisionsmeister aus Spanien, angeleitet vom Rasen-Weltgeist Schweinsteiger, wäre unmittelbar in die deutsche Geschichte des Fußballs und der Herzen eingegangen. Das pittoreske TV-Häufchen Elend illustrierte dagegen nur ein weiteres Mal, was der SZ-Autor Walser im Blick auf den Modus des Turniers dann wiederum richtig sah:

"Es gibt, das kann sich jeder leicht ausrechnen, viel mehr Verlierer als Gewinner."

Doch wir wollen uns nicht erheben. Womöglich hat Martin Walser die Kontrolle über seine Worte in genau dem Sinne verloren, den Roman Bucheli in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG in dem Aufsatz "Über die Verwandtschaft von Literatur und Fußball" beschrieb:

"Nur der erste Satz und nur der Ankick geschehen in Freiheit. Alles, was darauf folgt, ist kontingent und ein Produkt alles Vorausgegangenen, ungeachtet der Taktiken, Einfälle, Konzepte und Standardsituationen. Der Autor und der Spieler sind nicht Herren im eigenen Haus. Es ist die Sprache, und es ist der Ball [...], die immer mehr wissen als sie selbst."

Auch diese Analogie-Bildung schien uns nicht restlos stimmig - aber so ist das halt in Weltmeisterschaftszeiten: Die Feuilletonisten sind ein bisschen ballaballa. -
Und nun wählen wir einen lautmalerischen Ausweg aus dem Fußballfeuilleton. Wir kommen von ballaballa zu "Papperlapapp" - und damit zur Hochkultur.

Mit "Papperlapapp", einer Religionspersiflage von Christoph Marthaler und Anna Viebrock, wurde das 64. Theaterfestival von Avignon eröffnet - und viele Kritiker motzten .

"Nach einer Stunde [...] wird das Spektakel zum mühsamen Nummernzirkus sanfter Blasphemien. [...] Vom hoch gelegenen Ablass-Fenster des Papstes herab erklingt ein Flügel. Aber selbst die Macht der Musik, der in Marthalers Stücken sonst niemand widersteht, ist gebrochen: Die singenden Schauspieler klingen einfach nur falsch, wenn sie ihre Choräle anstimmen. Das Ende lässt auf sich warten", "

bekundete Johannes Wetzel in der Tageszeitung DIE WELT seine Enttäuschung.

Die meisten Ps in einem Satz brachte in der FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Joseph Hanimann unter:

" "Die Papstbeschwörung 'Papperlapapp' wird zur Nummernrevue im Palais des Papes."

Und auch die SZ-Autorin Eva-Elisabeth Fischer reagierte auf "Papperlapapp" ein bisschen gaga:

"Christoph Marthaler und Anna Viebrock inszenierten über weite Strecken ein Theater der Durchhänger und des Leerlaufs. Papperlapapp? - Rhabarber, Rhabarber."

Ganz ernsthaft wurde hingegen Mitte der Woche der 150. Geburtstag von Gustav Mahler begangen. Vor Mahler verbeugten sich die Feuilletonisten völlig ironiefrei - und am tiefsten der SZ-Autor Reinhard J. Brembeck:

"Mahler [...] ist der vollständigste Psychologe der Musikgeschichte, er unterschlägt keine Regung, die einen Menschen befallen kann. Also kommt in seinen Symphonien alles vor, was Menschen fühlen, wovon sie träumen, was sie verachten. [...] Schwärmerei trifft auf Berechnung, Hass auf Liebe, Todessehnsucht auf Lebensfreude, und bis zur Perversität gesteigerte Erotik auf mönchische Menschenscheu. So umfassend hat sonst keiner komponiert."

Der Film Mahler auf der Couch, nämlich der Couch von Sigmund Freud, hat Christiane Peitz vom Berliner TAGESSPIEGEL gefallen - und zwar, weil er auf Niveau verzichtet:

"Die irrlichternde Kamera von Benedikt Neuenfels lässt keinen Zweifel daran, dass "Mahler auf der Couch" als Phantasmagorie verstanden sein will, eher als Courts-Mahler-Schmonzette denn als seriöse Mahler-Biografie. Eine Nummernrevue, mit Überbelichtungen, ausfransenden Bildern, deplatzierten Blicken, üppig arrangierten Seeleninterieurs."

Die TAGESSPIEGEL-Autorin Peitz verriet auch, warum diese Manier wünschenswert ist:

"Mahler auf der Couch' ist [...] eine vorzügliche Therapie gegen die Authentizitätsgläubigkeit des überkorrekten deutschen Historienfilms, vom 'Untergang' bis zu den Doku-Fictions im Fernsehen."

Das offenbar recht korrekte Wesen der Taliban beleuchtete in der Wochenzeitung DIE ZEIT der Publizist Roger Willemsen. Er ist Schirmherr des in Deutschland ansässigen Afghanischen Frauenvereins, der am Hindukusch seit langem Schulen baut - was die Taliban nicht zu stören scheint:

"Die Taliban, die vermeintlich keinen Mädchenunterricht zulassen " [schrieb Willemsen], " haben von 103 Schulen in der Provinz Kundus nur drei geschlossen, sie haben aber verlangt, dass Mädchen nur von Lehrerinnen unterrichtet würden, um Übergriffe durch die traumatisierten Männer zu verhindern. Die größte Gefahr, die unsere Schule in Kundus überstand, war ein Querschläger der US-Truppen, der das Dach zerstörte", "

berichtete Roger Willemsen in der ZEIT - und provozierte alle, die den "Krieg gegen den Terror" verteidigen.

Abschließend ein krasser Themen- oder sagen wir: Flankenwechsel. Denn, bitte schön, das Endspiel kommt ja noch.

Der SZ-Fußball-Experte Lothar Müller referierte, dass der holländische Fußballstil mittels des FC Barcelonas praktisch zum spanischen Stil geworden ist, dass Stile also genauso Migranten sind wie viele Fußballstars - und zumal Jogis Jungs.

" "Darum " [meinte der SZ-Autor Müller] " sind die Deutschen am Sonntag zum Zuschauen nicht 'verurteilt'. Sie sind die idealen Zuschauer des Endspiels Spanien - Niederlande."

Liebe Hörer, sollten Sie nicht gewusst haben, was ein schwacher Trost ist - jetzt wissen Sie es!