Von Arno Orzessek

Du sollst nicht abschreiben: Das Plagiat in der Literatur wurde mit der "Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums" zum beherrschenden Thema der schreibenden Zunft.
Eigentlich bot die Leipziger Buchmesse, die an diesem Sonntag endet, eine gute Möglichkeit, endlich wieder einen Helene-Hegemann-freien Literaturdiskurs im deutschsprachigen Feuilleton zu etablieren.

Die Chance wurde indessen vertan, nicht zuletzt, weil Günter Grass, Christa Wolf und andere prominente Schriftsteller vor der Messe die "Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums" veröffentlichten. Darin hieß es:

"Missachtung, Aushöhlung und sträfliche Verletzung des Urheberrechts führt zur Entwertung, Aufgabe und schließlich zum Verlust jedweder eigenständigen intellektuellen und künstlerischen Leistung."

In der Erklärung wurde Helene Hegemann durch konsequentes Nicht-Aussprechen ihres Namens umso nachdrücklicher zur unheimlichen Heimsuchung der wahren Kunst stilisiert ...

... und die Feuilletons hatten ihr Thema: Das Plagiat in der Literatur - auch über "Axolotl Roadkill" hinaus.

In der Tageszeitung "DIE WELT" demonstrierte Uwe Wittstock, wie freizügig sich die Erklärungs-Unterzeichnerin Christa Wolf fremder Preziosen bedient hat, als sie ihren Roman Kindheitsmuster 1976 mit dem Satz begann: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen."

"Ein wunderschöner Romanauftakt, der sofort in die Geschichte hineinzieht", schwärmte WELT-Autor Wittstock. "Allerdings stammt er dummerweise nicht von Christa Wolf, sondern findet sich in William Faulkners Roman 'Requiem für eine Nonne' aus dem Jahr 1951. [...] Weder hat Christa Wolf den Anfangssatz ihres Romans in Anführungszeichen gesetzt, noch hat sie ihrem Buch eine Danksagung an Faulkner eingefügt."
Symptomatisch an Uwe Wittstocks Artikel "Der Axolotl-Komplex" war das Eingeständnis, eine Debatte, deren finale Unerquicklichkeit man längst absehen kann, gleichwohl wieder und wieder und wieder führen zu müssen. Wittstock im Wortlaut:

"Entschieden wird bei all dem naturgemäß gar nichts mehr. Die Hoffnung, am Ende der Debatte ließen sich auf dem Schlachtfeld Sieger und Verlierer ausmachen, ist illusorisch."

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG plagte sich Lothar Müller mit der fundamentalen Differenz zwischen Plagiat und Plagiat ab. Er adelte die unzähligen Plagiate in Péter Esterházys Harmonia Caelestis als hohe Kunst, um Helene Hegemann umso tiefer fallen zu lassen.

"Über 'Axolotl Roadkill' haben die Autorin, der Verlag und diejenigen Kritiker, die das Meisterwerk einer begabten Jungautorin entdeckt zu haben glauben, gerne von 'Intertextualität', von 'Collage' gesprochen. Das klang vage nach ästhetischem Raffinement. Der Roman selbst aber, vom Furor der Überbietung von Büchern wie Charlotte Roches 'Feuchtgebieten' vorangetrieben, ist erkennbar kruder, simpler, anspruchsloser gestrickt."

Aus Leipzig selbst berichtete Dirk Knipphals in der "TAGESZEITUNG" gewohnt unkompliziert und mit dezenter Häme:

"Wenn [...] auf der Eröffnung einer Buchmesse die Solistin des musikalischen Rahmenprogramms am eindrücklichsten im Gedächtnis bleibt, sagt das etwas über die Wortbeiträge des Abends aus. Deren emotionale Bandbreite war in der Tat limitiert. Der Ministerpräsident Stanislaw Tillich lobte sich sein Sachsen und zählte einige Erfolge des kulturellen Aufbaus Ost auf: Clemens Meyer, Uwe Tellkamp [...] Immerhin machte Tillich damit klar, was Politiker wirklich von Schriftstellern wollen: Prestigegewinn, Imagetransfer."

Den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewann schließlich Georg Klein für den Roman namens "Roman unserer Kindheit".

"Das ist eine ästhetisch unanfechtbare Entscheidung" urteilte Judith von Sternburg in der "FRANKFURTER RUNDSCHAU" und berichtete von der Preis-Verleihung:
"Liebe Romanleser", sagte Klein [...], und bedankte sich klassisch und rührend mit symbolischen Gänseblümchen bei seinem Verlag, seiner Familie und den Toten, die als Figuren in seine Erzählung eingegangen seien. 'Es braucht auch die Gunst unserer Toten', sagte er."

Selbst in Zeiten der Buchmesse hat sich die Welt weitergedreht. In den Feuilletons dominierten neben Leipzig samt allem Drum und Dran die Islam-Debatte mit Blick auf den Ausschluss des Islam-Verbands von der Islamkonferenz, und die Pädophilie-Debatte, auch mit Blick auf die Reformpädagogik des späten 19. Jahrhunderts, in der es laut TAZ-Autor Micha Brumlik von Anfang an homoerotische Aspekte gab.

In der "FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG" griff Jürgen Kaube den Schriftsteller Adolf Muschg an, weil dieser den ehemaligen Leiter der Odenwald-Schule, Gerold Becker, verteidigt hatte, während Eleonore Büning in der gleichen Zeitung den Zusammenhang von Gewalt und Musik fixierte:

"Gerade die Süße, der androgyne Schmelz von Knabenstimmen hat immer auch eine sexuelle Komponente gehabt, und die Dichter wie die Komponisten, von Bach bis Goethe, von Benjamin Britten bis zu Thomas Mann, wussten genau um diese Wirkung... Tausenden Kindern wurde regelmäßig Gewalt angetan im Namen der Musik, damit einige von ihnen ihre Engelsstimme zum Lobe Gottes erheben konnten."

Gefeiert wurde der 70. Geburtstag des italienischen Filmregisseurs Bernardo Bertolucci. "Antikonformistischer Manierist" nannte ihn Patrick Straumann in der "NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG". Laut "SZ"-Autor Göttler verstand sich Bertolucci auf "Spiele der Lust, um den Tod zu verdrängen". Der Film der Woche war Green Zone von Regisseur Paul Greengrass. "Ballerfilm mit Anspruch", schnodderte die "TAZ".

Vertiefen können wir das alles nicht. Wir bleiben auch auf der Zielgeraden bei den Büchern und der Schrift.

Es war wiederum die "NZZ", die zum Wochenende folgenden niederschmetternden Auszug aus dem dritten Tagebuch von Max Frisch abdruckte:

"Ein fast unüberwindlicher Ekel vor der Schreibmaschine, Versuche mit Handschrift, einmal auch mit dem Tonband, aber das hilft nicht."

Und wie lautet die Frage, die sich Max Frisch dann stellte?

Sie lautet, schön grundsätzlich und herrlich aktuell: "Muss ich etwas zu sagen haben?"