Von Arno Orzessek

Der Wochenerückblick: Die Feuilletons drehten sich immer noch um zentral um die Causa Hegemann und irgendwann um sich selber. Natürlich nahm auch die Berlinale-Berichterstattung breiten Raum ein. Für erhellende Einsichten in Bezug auf die Bush-Administration und die Gründe für den Irak-Krieg sorgte Don DeLillo in einem Interview mit der NZZ.
Alle Jahre wieder zur Berlinalezeit bekommt man Lust, der deutschen Sprache eine Neuschöpfung zu spendieren – nämlich das Eigenschaftswort "berlinal". Es würde die Stimmung des Feuilletons in den Tagen, in denen in Berlin in Erwartung goldener Bären rote Teppiche ausgerollt werden, prima kennzeichnen.

In der vergangenen Woche allerdings blieb die berlinale Stimmung nicht ungetrübt. Denn die Spott- und Häme-Orgie, die begonnen hat, nachdem Helene Hegemanns zunächst frenetisch bejubelter Roman Axolotl Roadkill als freches Flickschusterwerk entlarvt wurde, diese Häme-Orgie nahm noch zu.

Als unser Lieblingspolemiker entpuppte sich Julian Weber. Er knöpfte sich in der TAGESZEITUNG jene Feuilletonisten vor ...

"... die von den Lebenswelten der Jugend so unendlich weit entfernt sind, dass sie jeden Marketingtrick für bare Münze nehmen, der Musik, Drogen und Ficken verspricht."

Dann schrieb TAGESZEITUNG-Autor Weber den Feuilleton-Saturierten einen Satz hinter die Ohren, dem man eine rasante Karriere als geflügeltes Wort wünschen möchte:

"Pop ist ein Schlaganfall, der einen im Stehen ereilt, nicht im Sitzen."

DIE ZEIT widmete dem Hegemann-Komplex gleich drei Seiten. Da einer Wochenzeitung gewisse Reaktionsverzögerungen eigen sind, bedachte Peter Kümmel noch einmal Grundsätzliches – und tat es in gemäßigter Diktion:

"Der literarische Markt lässt einem Autor vor allem zwei Wege, um mythischen Ruhm zu erlangen: die totale Verhüllung und die restlose Entblößung als Person. Helene Hegemann hat sich gerüstet für ihren Weg in die Öffentlichkeit: Sie hat sich mit Blößen gepanzert. Das ist, als Performance genommen, genial; als Manöver einer gut dotierten Autorin, die von einem Unbekannten entlehnt, halte ich es für fragwürdig."

Quasi auf dem Fundament der Erwägungen von Peter Kümmel hielt ZEIT-Hauptkritikerin Iris Radisch ein feministisches Standgericht ab, das insbesondere die Herren Willi Winkler (SZ), Jürgen Kaube (FAZ) und Thomas Steinfeld (wiederum SZ) barsch aburteilte:

"Der Kulturkampf zwischen den alten Herren und dem jungen Mädchen, der aussieht wie der Kampf zwischen David und Goliath, ist ein Gradmesser für die allmähliche Verunsicherung der alten männlichen Hochkultur, die um ihre Zukunft fürchtet. Doch das ganze Gebell wird ihr nichts nutzen. Wenn sie für Eindringlinge, zumal in Gestalt von jungen widerspenstigen Frauen, nicht mehr zu sprechen ist, ist es schon jetzt mit ihr vorbei."

Dorothea Dieckmann legte als Autorin der Wochenzeitung DER FREITAG eine Interpretation von Axolotl Roadkill samt Hauptfigur Miftis vor, die das Donnerstags-Wüten der Iris Radisch dann schon wieder entwertete.

"Miftis Vater ist kein Vater, sondern ein spätpubertärer linker Kulturfuzzi, dem seine Kinder wurscht sind; für Helene Hegemann ist ihr linkskulturell aktiver Vater ein cooler, großartiger Typ, dem sie ihre Schreib-Innereien als erstem unterbreitet hat. Diese familiäre Unterwerfungsgeste ist nicht nur der Beginn, sondern ein Strukturmerkmal der traurigen Obszönität, der sie sich nun ausgesetzt sieht."

Interessiert Sie auch noch der interne Hegemann-Streit zwischen FAZ-online und FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG? Uns nun nicht mehr! Unsere Schlussbemerkung zum Hegemann-Komplex sei, dass er vielleicht das eine Gute hat: Er hat die Feuilletons für eine Weile von der zuletzt leergelaufenen Islam- und Islamkritik-Debatte erlöst.

Die Berlinale hat ihre Hauptaufgabe – das Vorführen von Hunderten von Filmen – mal wieder souverän erledigt. Angesichts der totalen Berichterstattung hier nur ein Statement von Christoph Egger, der in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG festhielt:

"!Man kann aber auch Mist sehen – den wiederum andere in höchsten Tönen preisen.""

Im Rahmen der Berlinale Keynotes wurden die bewegten Bilder durch Diskurse bereichert – Sir Norman Forster bedachte die Zukunft des Kinos.

In der Tageszeitung DIE WELT berichtete Eckhard Fuhr über eine verblüffende Analogie:

"Foster spricht dem Kino eine große Zukunft zu - wie auch der Eisenbahn, die er gewissermaßen als Schwestertechnologie der Kinematografie darstellte. Beide hatten in den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren ihre große Zeit. Und beide erleben gegenwärtig in Asien eine Renaissance. Im Osten, in China und Indien, hat die Zukunft des Kinos schon begonnen. Die Kurve der weltweit verkauften Kinokarten weist steil nach oben, die der verkauften DVDs in die entgegengesetzte Richtung."

Es war wiederum die NZZ, die ein Interview mit dem amerikanischen Schriftsteller Don DeLillo veröffentlichte, dessen neuer Roman Omega Punkt die Kritiker beschäftigt. DeLillo erklärte sich die Kriegslust der USA speziell unter Bush junior dahingehend, dass Amerika im Kampf der Kulturen nach praktischem Ersatz für den seligen Kalten Krieg suche:

"Ich glaube, die Leute in der Administration Bush wollten tatsächlich eine Neuauflage des Kalten Krieges, Rumsfeld, Cheney und andere haben sich irgendwie nach jener Zeit zurückgesehnt. Deshalb haben sie dann auch den Irak angegriffen - denn das war kein loses Netzwerk von Aufständischen und Terroristen. Sie wollten ein Land mit festen Grenzen, ein Land, wo es eine Armee und Uniformen gab, etwas, das sie zielgerichtet und mit der Aussicht auf ein klares Resultat angreifen konnten."

So Don DeLillo im NZZ-Interview, bei dessen Lektüre wir dachten: Gott, oh, Gott, hoffentlich sind die Amis nicht wirklich so paranoid drauf.

Es war also wieder keine ruhige Woche. Und noch die besinnlichsten Artikel, die Besprechungen der Dresdner Aufführung von Beethovens Missa Solemnis unter Christian Thielemann, erinnerten daran, dass die Menschen einander zu oft Wölfe sind.

In der SÜDDEUTSCHEN ZETUNG schrieb Wolfgang Schreiber:

"Als das Publikum dann, nach Beethovens gewaltiger, am Ende 'Frieden' herbeiflehender Missa solemnis hinaus auf den Platz der Semperoper tritt, läuten alle Kirchenglocken der Stadt – genau zu der Stunde, da die ersten Sirenen heulten, bevor damals im Februar 1945 die Bomben fielen."

Wir enden im Gedenken.