Von Arno Orzessek
Der Schriftsteller Thomas Brussig erklärt im "Rheinische Merkur", dass Nichtwählen auch Freiheit bedeute. Die "Tageszeitung" fragt, ob die große Koalition überhaupt einen Kulturbegriff hatte. Und die Zeitungen "Die Welt" und "Die Zeit" kritisieren den neuen Film "Visionen" der Regisseurin Margarethe von Trotta.
Dass die vergangene Woche die letzte vor der Bundestagswahl war, haben die Feuilletons durchaus nicht unterschlagen. Aber Erregung, Visionen, Dispute, gar Entscheidungskampf-Atmosphäre? Davon konnte an keinem einzigen Tag die Rede sein.
Dennoch hier einige Standpunkte und Stimmen – schon allein zur Würdigung der Wahl.
In einem Interview mit dem RHEINISCHEN MERKUR behauptete der Schriftsteller Thomas Brussig: "Nichtwählen ist Freiheit" - eine These, die unter Intellektuellen neuerdings vermehrt Zuspruch findet.
"Ich widerspreche denen vehement, die sagen, durch Nichtwählen werde die Demokratie untergraben. Durch Abo-Kündigungen wird ja auch nicht die Pressefreiheit gefährdet."
Ob diese Analogie brillant oder Unsinn ist, wollen wir offenlassen, dafür aber beifällig das Lob zitieren, das im selben RHEINISCHEN MERKUR der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich auf die Rhetorik von Peer Steinbrück gemünzt hat:
"Peer Steinbrücks Reden mit ihrem Feuerwerk gewagter Metaphern sind fast schon ein Genre für sich. Harald Schmidt sprach von 'Peers politischer Poesie'."
Sollte es mit ihm binnen weniger Stunden als Finanzminister aus sein, würden auch wir Peer Steinbrück vermissen - den Mann, der mitten in der Krise den Druck auf die Steueroasen mit der Bemerkung geschmückt hat: "Die Kavallerie in Fort Yuma muss nicht immer ausreiten, manchmal reicht es, wenn die Indianer wissen, dass sie da ist."
Unverkennbar gegen den Sicherheitsarchitekten und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gerichtet, verteidigte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Jens Seipenbusch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Physiker und Vorsitzende der Piratenpartei warnte vor allem vor dem Missbrauch von genetischen Informationen:
"Immer unverhohlener begegnen uns die Begehrlichkeiten, unsere Selbstbestimmung doch in angeblich wohlwollende Hände Dritter abzugeben. Die Optimierung der Voraussagbarkeit unseres Verhaltens wird uns dabei wahlweise mit Zuckerbrot und Peitsche schmackhaft gemacht oder auch einfach verschwiegen, wie beim Morbiditätsindex der elektronischen Gesundheitskarte."
Als würde sie mit Sicherheit am Ende sein, fragte Dirk Knipphals in der TAGESZEITUNG: "Hatte die Große Koalition einen Kulturbegriff?" und resümierte:
"[Es war] dies die Legislaturperiode, in der einem kulturbeflissene Bekenntnisse von Politikerseite frei Haus geliefert wurden. Geradezu begeistert wurde der Begriff der Kulturnation beschworen, vom Hamburger Ersten Bürgermeister bis hin zum Bundespräsidenten. Kultur, das ist jetzt endgültig nicht mehr der zersetzende Geist der Reflexion, sondern ein warmer Schutzraum in Zeiten der kalten Globalisierung."
So, etwas sarkastisch, Dirk Knipphals in der TAZ.
Wir verlassen die politische Bühne nicht ohne einen Blick auf die Wahlprogramme in "Leichter Sprache" – womit semantisch und syntaktisch abgerüstete Versionen gemeint sind, in denen die Parteien um Menschen mit sprachlich verminderter Kapazität werben.
In der FAZ zitierte Oliver Tolmein die nette Formulierung, mit der die Grünen in leichter Sprache und ohne jedes Komma vor der Klimakatastrophe warnen.
"Das Wetter auf der ganzen Welt nennen wir Klima. Durch die Abgase wird es immer wärmer. Dadurch tauen die Eisberge. Dann haben die Meere zu viel Wasser. Und es gibt Hochwasser."
3300 Jahre bevor diese Problematik akut wurde, nutzte man in Syrien die heute so genannte "Gruft VII" als Grabkammer. Sie gehört zum Komplex der Königsgruft von Qatna, die 2002 von deutschen Archäologen entdeckt worden war. Viele Feuilletons würdigten am Anfang der Woche den neuen Fund in großer Aufmachung und bebildert – so auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, die Hubert Filser in die Wüste gesandt hatte.
"Grell blendet das Sonnenlicht, wenn man aus der Gruft VII wieder nach oben steigt. Die trockene, syrische Hitze packt einen, der Atem geht schwerer, es ist, als ob man aus einer anderen Welt käme. So wandelten auch die alten Könige von Qatna zwischen zwei Welten, der einen oben, in der sie herrschten, und der anderen unten, der Welt der Vorfahren, in der sie eher dienten und um Rat fragten."
Im 12. Jahrhundert, also nicht ganz so tief in der Vergangenheit, hat die Benediktinerin Hildegard von Bingen gelebt, von deren Leben und Werk Margarethe von Trottas neuer Film "Vision" handelt – nach Anzahl der Würdigungen der Film der Woche.
Gernot Facius bemerkte in der Tageszeitung DIE WELT:
"Die Filmemacherin von Trotta sieht in der adligen Klosterfrau 'die Rosa Luxemburg ihrer Zeit'. Eine gewagte Analogie. So gewagt wie die Charakterisierung als 'erste Feministin'. Die Nonne vom Rupertsberg hat die damals herrschenden Strukturen nicht in Frage gestellt, auch nicht die theologischen Doktrinen der Kirche."
Auch die Wochenzeitung DIE ZEIT bemäkelte das Werk von Trottas.
"Der Film lässt, um sich auf das Klosterleben zu konzentrieren, die Welt blass, aus der sich die Nonnen zurückzogen", schrieb Elisabeth von Thadden.
Richtig zu fetzen angefangen haben sich unter der Woche die Philosophen Axel Honneth und Peter Sloterdijk.
Auf einen älteren FAZ-Artikel von Sloterdijk Bezug nehmend, bezichtigte Honneth den Karlsruher Kollegen in der ZEIT, dem "rührseligen Traum vom Sozialstaat endlich den Garaus" machen zu wollen.
Daraufhin schrieb Sloterdijk einen offenen Brief an die ZEIT-Kulturredaktion, den die FAZ in ihrer Samstagsausgabe abdruckte:
"Die Wahrheit ist doch, unser Professor [Honneth] hat in Bezug auf meine Arbeit einen Lektüre-Rückstand von, freundlich geschätzt, 6000 bis 8000 Seiten",
höhnte Sloterdijk fast so laut wie seinerzeit im Kampf der Platzhirsche mit Jürgen Habermas, als es um die "Elmauer Rede" ging.
Abschließend eine ganz anders gelagerte Polemik. Michael Hanfeld schrieb in der FAZ über die televisionäre Aufbereitung von Politik im Wahlkampf:
"Man wünschte sich, die Fernsehmacher würden morgens nicht vor den Spiegel treten, um sich zu pudern oder glatt zu rasieren, sondern um sich selbst zu erkennen. Denn sie sind die Langweiler […], nicht die Politiker. […] Ein Kreislauf selbstreferentieller Autisten. Das Raumschiff Berlin, eine andere Umlaufbahn, ein Paralleluniversum."
So, und nun warten wir auf die ersten Hochrechnungen.
Dennoch hier einige Standpunkte und Stimmen – schon allein zur Würdigung der Wahl.
In einem Interview mit dem RHEINISCHEN MERKUR behauptete der Schriftsteller Thomas Brussig: "Nichtwählen ist Freiheit" - eine These, die unter Intellektuellen neuerdings vermehrt Zuspruch findet.
"Ich widerspreche denen vehement, die sagen, durch Nichtwählen werde die Demokratie untergraben. Durch Abo-Kündigungen wird ja auch nicht die Pressefreiheit gefährdet."
Ob diese Analogie brillant oder Unsinn ist, wollen wir offenlassen, dafür aber beifällig das Lob zitieren, das im selben RHEINISCHEN MERKUR der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich auf die Rhetorik von Peer Steinbrück gemünzt hat:
"Peer Steinbrücks Reden mit ihrem Feuerwerk gewagter Metaphern sind fast schon ein Genre für sich. Harald Schmidt sprach von 'Peers politischer Poesie'."
Sollte es mit ihm binnen weniger Stunden als Finanzminister aus sein, würden auch wir Peer Steinbrück vermissen - den Mann, der mitten in der Krise den Druck auf die Steueroasen mit der Bemerkung geschmückt hat: "Die Kavallerie in Fort Yuma muss nicht immer ausreiten, manchmal reicht es, wenn die Indianer wissen, dass sie da ist."
Unverkennbar gegen den Sicherheitsarchitekten und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gerichtet, verteidigte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Jens Seipenbusch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Physiker und Vorsitzende der Piratenpartei warnte vor allem vor dem Missbrauch von genetischen Informationen:
"Immer unverhohlener begegnen uns die Begehrlichkeiten, unsere Selbstbestimmung doch in angeblich wohlwollende Hände Dritter abzugeben. Die Optimierung der Voraussagbarkeit unseres Verhaltens wird uns dabei wahlweise mit Zuckerbrot und Peitsche schmackhaft gemacht oder auch einfach verschwiegen, wie beim Morbiditätsindex der elektronischen Gesundheitskarte."
Als würde sie mit Sicherheit am Ende sein, fragte Dirk Knipphals in der TAGESZEITUNG: "Hatte die Große Koalition einen Kulturbegriff?" und resümierte:
"[Es war] dies die Legislaturperiode, in der einem kulturbeflissene Bekenntnisse von Politikerseite frei Haus geliefert wurden. Geradezu begeistert wurde der Begriff der Kulturnation beschworen, vom Hamburger Ersten Bürgermeister bis hin zum Bundespräsidenten. Kultur, das ist jetzt endgültig nicht mehr der zersetzende Geist der Reflexion, sondern ein warmer Schutzraum in Zeiten der kalten Globalisierung."
So, etwas sarkastisch, Dirk Knipphals in der TAZ.
Wir verlassen die politische Bühne nicht ohne einen Blick auf die Wahlprogramme in "Leichter Sprache" – womit semantisch und syntaktisch abgerüstete Versionen gemeint sind, in denen die Parteien um Menschen mit sprachlich verminderter Kapazität werben.
In der FAZ zitierte Oliver Tolmein die nette Formulierung, mit der die Grünen in leichter Sprache und ohne jedes Komma vor der Klimakatastrophe warnen.
"Das Wetter auf der ganzen Welt nennen wir Klima. Durch die Abgase wird es immer wärmer. Dadurch tauen die Eisberge. Dann haben die Meere zu viel Wasser. Und es gibt Hochwasser."
3300 Jahre bevor diese Problematik akut wurde, nutzte man in Syrien die heute so genannte "Gruft VII" als Grabkammer. Sie gehört zum Komplex der Königsgruft von Qatna, die 2002 von deutschen Archäologen entdeckt worden war. Viele Feuilletons würdigten am Anfang der Woche den neuen Fund in großer Aufmachung und bebildert – so auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, die Hubert Filser in die Wüste gesandt hatte.
"Grell blendet das Sonnenlicht, wenn man aus der Gruft VII wieder nach oben steigt. Die trockene, syrische Hitze packt einen, der Atem geht schwerer, es ist, als ob man aus einer anderen Welt käme. So wandelten auch die alten Könige von Qatna zwischen zwei Welten, der einen oben, in der sie herrschten, und der anderen unten, der Welt der Vorfahren, in der sie eher dienten und um Rat fragten."
Im 12. Jahrhundert, also nicht ganz so tief in der Vergangenheit, hat die Benediktinerin Hildegard von Bingen gelebt, von deren Leben und Werk Margarethe von Trottas neuer Film "Vision" handelt – nach Anzahl der Würdigungen der Film der Woche.
Gernot Facius bemerkte in der Tageszeitung DIE WELT:
"Die Filmemacherin von Trotta sieht in der adligen Klosterfrau 'die Rosa Luxemburg ihrer Zeit'. Eine gewagte Analogie. So gewagt wie die Charakterisierung als 'erste Feministin'. Die Nonne vom Rupertsberg hat die damals herrschenden Strukturen nicht in Frage gestellt, auch nicht die theologischen Doktrinen der Kirche."
Auch die Wochenzeitung DIE ZEIT bemäkelte das Werk von Trottas.
"Der Film lässt, um sich auf das Klosterleben zu konzentrieren, die Welt blass, aus der sich die Nonnen zurückzogen", schrieb Elisabeth von Thadden.
Richtig zu fetzen angefangen haben sich unter der Woche die Philosophen Axel Honneth und Peter Sloterdijk.
Auf einen älteren FAZ-Artikel von Sloterdijk Bezug nehmend, bezichtigte Honneth den Karlsruher Kollegen in der ZEIT, dem "rührseligen Traum vom Sozialstaat endlich den Garaus" machen zu wollen.
Daraufhin schrieb Sloterdijk einen offenen Brief an die ZEIT-Kulturredaktion, den die FAZ in ihrer Samstagsausgabe abdruckte:
"Die Wahrheit ist doch, unser Professor [Honneth] hat in Bezug auf meine Arbeit einen Lektüre-Rückstand von, freundlich geschätzt, 6000 bis 8000 Seiten",
höhnte Sloterdijk fast so laut wie seinerzeit im Kampf der Platzhirsche mit Jürgen Habermas, als es um die "Elmauer Rede" ging.
Abschließend eine ganz anders gelagerte Polemik. Michael Hanfeld schrieb in der FAZ über die televisionäre Aufbereitung von Politik im Wahlkampf:
"Man wünschte sich, die Fernsehmacher würden morgens nicht vor den Spiegel treten, um sich zu pudern oder glatt zu rasieren, sondern um sich selbst zu erkennen. Denn sie sind die Langweiler […], nicht die Politiker. […] Ein Kreislauf selbstreferentieller Autisten. Das Raumschiff Berlin, eine andere Umlaufbahn, ein Paralleluniversum."
So, und nun warten wir auf die ersten Hochrechnungen.