Von Arno Orzessek

Diese Feuilleton-Woche wurde bestimmt von Geburtstagen und Abschieden: Peter Handke und Alice Schwarzer wurden zu ihrem Siebzigsten gewürdigt, getrauert wurde um den Musiker Dave Brubeck und den Architekten Oscar Niemeyer.
Zunächst zu zwei Geburtstagskindern, die in der vergangenen Woche ihren Siebzigsten gefeiert haben.

Unstrittig dürfte sein, dass Alice Schwarzer auch im gesetzten Alter nervt wie eh und je. Gestritten wird jedoch darüber, ob das heute noch jemandem nutzt. Und der Streit könnte dauern.

In der FRANKFURTER RUNDSCHAU versicherte Alice Schwarzer, dass sie aktiv bleiben wolle. Denn merke:

"'Picasso ist auch nicht 'in Rente' gegangen.'"

Die TAGESZEITUNG präsentierte auf einer Schwarzer-Geburtstagsseite "eine Sammlung ihrer schönsten Thesen und Erinnerungen im O-Ton" - darunter diesen:

"'Ich fühle mich durch diese Klischees, die man mir anhängt, vergewaltigt. Am meisten ärgere ich mich, dass man mir aberkennt, was ich haufenweise habe: eine dicke Portion an Menschlichkeit und eine ganze Menge Humor.'"

Die meisten Gratulanten würdigten die historischen Verdienste der "Emma"-Herausgeberin, gingen jedoch mit der aktuellen Medien-Figur bärbeißig um.

Unter der Überschrift "Im Pelz erstarrt" spottete Catrin Lorch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:

"Als wertbeständiger Charakter wird Schwarzer [ ... .] [mittlerweile] vor allem dort geschätzt, wo man auf feste Rollen baut. Im konservativen Lager. Und im Fernsehen, das Schwarzer gerne den Stuhl der eigensinnigen Tante freihält. [ ... ] Wie weit sie sich damit von ihren Zielen entfernt hat, dafür ist das Magazin Emma ein Symptom, das seit seiner Gründung mit einer Startauflage von 200.000 Exemplaren auf unter ein Fünftel der ehemaligen Präsenz gesunken ist."

In der Tageszeitung DIE WELT paraphrasierte Eckhard Fuhr nicht ohne Häme Schwarzers Streitschrift "Der kleine Unterscheid und seine großen Folgen" von 1975:

"Kurz gefasst steht darin, dass der übliche Sex zwischen Mann und Frau im Kern eine Vergewaltigung der Frau durch den Mann sei. Jeder Mann sei ein potenzieller Vergewaltiger, jede Frau ein potenzielles Opfer. [ ... ] Auf Liebesglück konnte dieser penetrante Gedanke wie eine zersetzende Säure wirken. Aus dem Schneider waren eigentlich nur die Lesben."

Man glaubte beim Lesen, dass Eckhard Fuhr beim Schreiben den Kopf geschüttelt hat. Und zwar heftig. Am Ende aber gratulierte der WELT-Autor ganz "herzlich".

Und Hannelore Schlaffer befand in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:

"Wenn es für Personen das Denkmal noch gäbe, wäre [ ... ] [Alice Schwarzer] eines zu setzen."

Zumindest so ein Konjunktiv-Denkmal hätte sich auch Peter Handke verdient.

Zum 70. Geburtstag des österreichischen Schriftstellers schrieb Jörg Magenau in der TAZ:

"Peter Handke ist schwer zu ertragen. In seinem Fall ist das eine Qualität. In seiner Konzentration auf das Einfache, Natürliche, Stille könnte er als Vorbild für eine nicht am Konsum, sondern am originären Denken orientierte Existenzweise dienen. Seine Bücher sind Meditationen oder gehen aus ihnen hervor [ ... ]. Handke ist einer der wenigen wirklichen Individualisten, die wir haben, und nicht bloß einer, der sich originell ausstaffiert."

Jörg Magenau betonte Handkes Individualismus, Michael Angele in der Wochenzeitung DER FREITAG hingegen dessen Einsamkeit.

"Unser Handke ist [ ... ] geradezu ein Einsamkeits-Süchtiger. Seine Texte sind ein langer Beitrag zu einer noch zu schreibenden Ästhetik des Alleinseins. Natürlich sucht der Einsame den Bund mit dem Leser, und dann sind sie zu zweit einsam." -"

Wir greifen den Feuilleton-Rhythmus der vergangenen Woche auf und kommen von den Geburtstagen zu den Todesfällen.

Mit nicht weniger als 104 Jahren ist in Rio de Janeiro der kettenrauchende Stahlbeton-Virtuose Oscar Niemeyer gestorben.

""Es ist eine tropisch erhitzte Moderne, die Oscar Niemeyer erfand" [unterstrich Niklas Maak in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG]: "sein Haus [ ... ] hat kaum einen rechten Winkel, der Beton tanzt um Felsen, schwingt sich wie eine fleischige Pflanze ins tropische Dickicht und bringt die Dynamik des lateinamerikanischen Barock mit der Formvielfalt des Dschungels zusammen: Die Natur war nicht der Gegner, sondern Vorbild, die Architektur ihr Echo."

Weltruhm errang Oscar Niemeyer mit dem Entwurf des Zentrums der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Der Stadt indessen hat es wenig genutzt, bedauerte Jörg Häntzschel in der SZ:

"Brasilia hat die meisten Hoffnungen enttäuscht. Straßen wie Startbahnen verzwergten die Fußgänger. Und da jenseits des Zentrums die urbanistischen Ambitionen endeten, ähnelte Brasilia anderen Städten bald auf fatale Weise: Um den Kern legten sich Gürtel um Gürtel von Slums."

Deutlich früher als Oscar Niemeyer, nämlich mit 91 Jahren starb der Pianist Dave Brubeck - "Der weiße Botschafter des Jazz", wie ihn die NZZ in ihrem Nachruf feierte.

Mit einem leisen Blick für das Komische konstatierte NZZ-Autor Stefan Hentz:

"Am letzten Mittwoch [. ..] erlag Dave Brubeck auf dem Weg zum Kardiologen einem Herzversagen." - "

Natürlich fanden die Feuilletons zwischen Geburtstags- und Todanzeigen auch noch Platz für andere Dinge - etwa für den Untergang der Menschheit aus Gründen der Überhitzung des Planeten.

""Selbst wenn wir jetzt einen Knopf zum Ausschalten drücken könnten, wäre es zu spät, weil so viele Treibhausgase schon in der Pipeline stecken. Was zu tun wäre? Praktisch glaube ich nicht, dass wir das als Menschheit in den Griff bekommen", "
prophezeite Dennis Meadows, einst Autor der Studie "Grenzen des Wachstums", in der FAZ. -

Tja, liebe Hörer, dieses Mal müssen wir Sie mit düsteren Gedanken in den Sonntag entlassen.

Denn in der NZZ schriebt Thomas Macho zwar über "Die Lust am eingebildeten Untergang" - bemerkte dann aber doch: Der Untergang ist keine Einbildung.

""Unentwegt geht die Welt unter: für alle Menschen, die an Hunger, Seuchen, in Kriegen und Naturkatastrophen sterben. Unentwegt gehen Welten unter: für eine deprimierende Anzahl von Lebewesen und Kulturen."

Der NZZ-Artikel hieß übrigens: "Das Ende naht."

Und hier ist es nun.