Von Arno Orzessek

Vor 100 Jahren sank die Titanic - und lieferte damit auch nach einem Jahrhundert ausreichend Stoff für die Feuilletons, die oft überraschend frisch über das Thema berichteten. Günter Grass blieb auch in dieser Woche Thema. Gelobt und betrauert wurde zudem Ivan Nagel.
12. April 1912. Der Bankierssohn Siegfried Schreiber ist auf dem Luxusdampfer George Washington mit dem Ziel New York unterwegs und notiert im Tagebuch:

"'Etwas entfernt sahen wir einen [Eisberg] schwimmen, der circa 100 bis 150 Meter über Wasser ragte. Der Teil der Eisberge, der unter Wasser schwimmt, ist natürlich fünf- bis sechsmal so groß. Die Begegnung mit einem solchen Berg bei Nebel oder in der Nacht kann also eventuell sehr unangenehm werden.'"

Als die Titanic zwei Tage später auf derselben Route ihre Begegnung mit dem Eisberg hatte, wurde es tatsächlich sehr unangenehm. -

Zum 100. Jahrestag des Untergangs beleuchtete Bernd Graff in SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG nicht die Titanic-Havarie selbst, sondern befuhr anhand der Dokumente von Siegfried Schreiber den maritimen Unglücksort kurz vor dem Unglück.

Eine tolle Idee!... Zumal die Briefe, die Siegfried Schreiber auf der George Washington verfasst hat, bislang unveröffentlicht waren.

Dampf gemacht hat der Titanic-Jahrestag offenbar auch der Feuilleton-Redaktion der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Sie glänzte mit der Erstveröffentlichung des Hans-Blumenberg-Textes "Die unsichtbaren sechs Siebtel. Über den Eisberg als Metapher."

Für Blumenberg, der übrigens auch zu Lebzeiten NZZ-Autor war, gleicht das menschliche Bewusstsein der Spitze eines Eisbergs:

"Sechs Siebtel seines Seins sind dem Menschen folglich nicht bewusst. Diese Schichten kann er mit seinem Wissen nicht einsehen und nicht mit seinem Willen bestimmen. Nur ein kleiner Teil seiner selbst ist ihm bewusst. Mit seinem Bewusstsein identifiziert er sich. Dieses eine Siebtel hält er für sich selbst ... " -

Das gilt natürlich auch für Günter Grass. Dem Nobelpreisträger wurde in der vergangenen Woche im Blick auf sein Gedicht "Was gesagt werden muss" von allen Seiten bewusste Unlauterkeit vorgeworfen.

"Es war eine Provokation. Mildernde Umstände oder Naivität würde ich ihm nicht zuschreiben. Er muss sich der Tragweite seiner Äußerungen bewusst gewesen sein [ ... ]. Damit hat er etwas entfesselt, innerhalb Deutschlands zumindest, was erschreckend ist. Schade, dass man so eine Provokation nicht mit ironischem Lächeln, murmelnd 'just skip it', abtun kann", "

bedauerte der Historiker Fritz Stern im Gespräch mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:

In der Tageszeitung DIE WELT spießte der französische Philosoph Bernhard-Henri Lévy Grass' Behauptung auf, es gehe ihm bei der Israel-Kritik um den brüchigen Weltfrieden.

Laut Lévy hätten sich andere Adressaten aufgedrängt:

""Es gibt Pakistan, von dem wir weder wissen, wie viele Sprengköpfe es besitzt, noch, wo genau diese sich befinden, noch welche Garantie es gibt, dass sie nicht eines Tages in die Hände von Gruppen fallen, die mit al-Qaida liiert sind. Es gibt das Russland Putins, dem die Heldentat gelungen ist, in zwei Kriegen ein Viertel der tschetschenischen Bevölkerung zu vernichten. Es gibt den Schlächter von Damaskus [ ... ]. Und es gibt, natürlich, den Iran ... "

Die Wochenzeitung DER FREITAG nahm das Grass-Gedicht zum Anlass, das Genre der politischen Lyrik generell zu hinterfragen:

"Bei Grass [ ... ] wird die politische Lyrik gerade dort, wo sie auf Propaganda mit Zeilenumbruch zusammenschrumpft, zum unmittelbaren Selbstausdruck eines Ressentiments, eines lange verborgenen Grolls, einer tief empfunden Zurücksetzung und 'Ungerechtigkeit', die unbedingt 'gesagt' werden muss, die zu den Millionen, die auch so denken, drängt, umso mehr, als sie angeblich nicht gesagt werden darf."

So Magnus Klaue im FREITAG.

Kein Mensch kann alles studieren, was Henryk M. Broder in diesen Tagen gegen Grass veröffentlicht. Zu seinen letzten Pamphleten zählte jedenfalls das vergiftete "Lob auf Grass", das ebenfalls in der WELT erschien.

Broders These, sein Ressentiment:

"Grass möchte endlich mit den Juden gleichziehen, die ihm als Opfer der Geschichte um einige Nasenlängen voraus sind." - "

Als Sieger der Musikgeschichte haben sich Kraftwerk entpuppt, die Elektropop-Band aus Düsseldorf. Über die Kraftwerk-Retrospektive in acht Konzerten, die das Museum of Modern Art ausgerichtet hat, schrieb Jordan Mejias in der FAZ:

""Mit dem überwiegend jungen, hipsterhaft akzentuierten New Yorker Museumsvölkchen haben sie dabei leichtes Spiel. Zu ihrer minimalistisch dosierten Melodienmechanik, ihren lakonisch gerappten Repetitionen und elektronisch verfremdeten Klingklangwolken, ihren Loops, Maschinenrhythmen und -geräuschen schlagen sie es mit einer dreidimensionalen Video-Orgie in Bann."

Folgt man SZ-Autor Jörg Häntzschel, haben Kraftwerk das Perpetuum mobile des Erfolgs gefunden:

"Kraftwerk haben seit Jahrzehnten keine neue Musik mehr aufgenommen. Stattdessen
haben sie ihr bestehendes Werk laufend aktualisiert, hier und dort die Akzente verschoben, da eine neue Basslinie eingefügt. Das Ergebnis ist Musik, die über weite Strecken fast schockierend neu klingt." - "

Das Feuilleton in Trauer vereint hat in der vergangenen Woche der Tod des Dramaturgen, Schriftstellers und Kritikers Ivan Nagel. Er starb 80-jährig in Berlin.

"Ivan Nagel hat sich sein ganzes Leben lang interessiert für das Schöne und das Richtige und fast noch mehr für die Frage, wie beides zusammenhängt. Er hatte früh erlebt, wie falsch und hässlich der Mensch sein kann. Er hat den Rest seines Lebens damit verbracht, das Richtige und Schöne herauszukitzeln", "

bemerkte Arno Widmann in der FRANKRUTER RUNDSCHAU.

Pathetische Worte wählte Ulla Unseld-Berkéwicz in der SZ:

"Ivan Nagel war jüdisch und schwul und frei. Einer jener gewaltigen unbeugsamen jüdischen Männer, von denen Heine gesprochen hat. Ein Schriftgelehrter, der für das Theater, die größte aller Menschenkünste, und gegen Unverstand und Unrecht stritt."

Wie man einen Nachruf warmherzig und gleichzeitig cool betitelt, zeigte die WELT. Ulrich Weinzierls Erinnerungen an den "Theaterphilosophen" mit der Vorliebe für Zigaretten standen unter dem Titel:

"Wo er rauchte, da war Feuer."

Ruhe sanft, Ivan Nagel!