Von Arno Orzessek

Günter Grass und seine in ein Gedicht verpackte Behauptung, Israel behalte sich das Recht auf einen atomaren Erstschlag gegen den Iran vor, dominieren die Feuilletons der Woche. Die SZ veröffentlichte am Mittwoch das Grass-Gedicht "Was gesagt werden muss". "Nicht ganz dicht, aber ein Dichter", konterte Henryk M. Broder in der "WELT". "Der an seiner Schuld würgt", schrieb Micha Brumlik in der "taz" über Grass, der als 17-Jähriger einer Einheit der Waffen-SS angehörte. Auch Frank Schirrmacher und Joachim Güntner sparten in der "FAZ" und der "Neuen Zürcher Zeitung" nicht mit Kritik.
Mittwoch, der 4. April. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, Feuilleton-Seite 1. Im unteren Teil ein großer Kasten, im Kasten ein Gedicht, und zwar von Literaturnobelpreisträger Günter Grass.

"’Was gesagt werden muss’"

, heißt das Zeilenwerk.

Die Kernaussage: Israel gefährde mit der Planung eines Präventivschlags gegen Iran den Weltfrieden; und Deutschland trage zum Unfrieden bei, indem es U-Boote liefert, von denen sich

"’allesvernichtende Sprengköpfe’"

abfeuern lassen.

Den medialen Erstschlag gegen Günter Grass führte noch am selben Tag Henryk M. Broder unter dem Titel

"Nicht ganz dicht, aber ein Dichter"

in der Tageszeitung DIE WELT:

"Grass hat schon immer zu Größenwahn geneigt, nun aber ist er vollkommen durchgeknallt."

Dass Broders barsche Reaktion

"auf den Prototyp des gebildeten Antisemiten"

zeitgleich mit dem inkriminierten Gedicht erscheinen konnte, erklärte sich Grass in der SZ hinterher mit Indiskretion:

"’Eine frühe Fassung meines Gedichts, das der ZEIT vorgelegen hat, das diese aber nicht gedruckt hat, ist in der WELT Gegenstand der Kritik gewesen. Diese frühe Fassung ist offenbar von der ZEIT der WELT zugespielt worden.’"

Ob es sich so verhält, sei dahingestellt. Sicher ist, dass Broders Einlassung nur die erste Böe eines Entrüstungssturms war.

Kurze Abschweifung: Dass Grass den Sturm mit einem künstlerisch garstigen Gedicht auslösen konnte, steht in krassem Gegensatz zu den Abgesängen auf seine Relevanz, die in den vergangen Jahren oft zu hören waren.

"Der an seiner Schuld würgt",

titelte die TAGESZEITUNG, in der Micha Brumlik zu dem Urteil kam:

"Der Grass von 2012 ist schlimmer als ein Antisemit, da er mit sich, seiner und der deutschen Geschichte in einer Weise unaufrichtig umgeht, die nicht nur traurig stimmt, sondern auch politisch verhängnisvoll ist."

Einen Tag nach Broders Attacke legte DIE WELT noch einmal nach und fragte, ob

"der glühende Nazi, der (…) (Grass) einmal war, durch die Hintertür wieder hereinspaziert (kommt)?"

"Wer ‚Was gesagt werden muss’ genauer liest, der wird eine solche Fülle von Denkfiguren und Sprachformeln finden, die ihre Herkunft aus der NS-Ideologie nicht verbergen können, dass man leider sagen muss, dieses Dokument, angeblich vom Autor ‚mit letzter Tinte’ geschrieben […], bringt es endgültig an den Tag: Hier kann sich ein Mensch von den intellektuellen Prägungen seiner Jugend offenbar nicht lösen","

befand Tilmann Krause - beließ es aber nicht dabei.

Der erregte WELT-Autor unterstellte dem Proletariat - eklatant geschichtswidrig - eine besondere Vorliebe für die braune Lehre und nahm mehrere Kinder kleiner Leute nicht in Sippen-, sondern in Klassen-Haft:

""Man darf ja nicht vergessen, dass Grass, (Martin) Walser, (Christa) Wolf und andere aus illiteraten Elternhäusern stammen, die der NS-Ideologie geistig nichts entgegenzusetzen vermochten. Diese Kleinhäusler und Kleinhändler waren das Milieu, mit dem die Nazis ihr ‚Weltreich’ aufzubauen gedachten, dem die ‚Rittergüter im Osten’ versprochen wurden. Die alten Eliten waren dem braunen Mob suspekt, sie wurden unterdrückt und wenn möglich auch vernichtet. Doch dieses proletarisierte Kleinbürgertum (…), das wurde auf einmal politikfähig. Von eben diesem ungeheuren Missverhältnis kündet nun, wie vor siebzig Jahren, Grassens angemaßte Präceptorenrolle."

Wir können hier nicht alle Geschichtsverdrehungen Tilman Krauses auflösen, halten aber fest: Wenn in der vergangenen Woche noch weit größerer Unsinn veröffentlicht wurde als "Was gesagt werden muss", dann sind es diese letzten Absätze des WELT-Artikels.

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG verglich Frank Schirrmacher die Grasssche Poesie - schief und krumm - mit

"Ikea-Regalen"

und verdammte "Was gesagt werden muss" wie folgt:

"Es ist ein Machwerk des Ressentiments, es ist, wie Nietzsche über das Ressentiment sagte, ein Dokument der ‚imaginären Rache’ einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation. Gern hätte […] [Grass], dass jetzt die Debatte entsteht, ob man als Deutscher Israel denn kritisieren dürfe. Die Debatte aber müsste darum geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen, nur damit ein fünfundachtzigjähriger Mann seinen Frieden mit der eigenen Biographie machen kann."

Persönlich spürbar weniger echauffiert, argumentierte Joachim Güntner in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:

"Man wird (…) der Forderung folgen können, die Grass am Ende aufstellt: Israels atomares Potenzial sei von einer unabhängigen internationalen Behörde permanent zu kontrollieren. Und doch hat das Gedicht viele peinliche Züge. Grass macht sich zum Fürsprecher einer Gleichbehandlung, wie sie Diktator Ahmadinejad gut in den Kram passen dürfte - nach der Devise: Wenn Irans Atomprogramm kontrolliert wird, dann bitte auch dasjenige Israels. Als habe es nie Drohungen aus Teheran gegeben, Israel auszulöschen."

Eine Kulturpresseschau ist keine Gerichtsverhandlung. Dennoch soll dem angeklagten Dichter das Recht zur Widerrede eingeräumt werden….

Zumal die SZ am Samstag im Interview die iranischen Drohungen ansprach. Woraufhin Grass einen seiner typischen rhetorischen Haken schlug:

""’Diese Vernichtungsrhetorik gegen Israel hat es immer gegeben. Zurzeit ist Iran die einzige Stimme, die so redet; auch das ist schlimm. Aber: Israel hat es immer verstanden, sich als dominierende militärische Macht im Nahen Osten zu wehren, in mehreren Kriegen. Aber was jetzt droht, ist ein Risiko ohnegleichen - ein Präventivschlag, ein Erstschlag gegen Iran hätte ungeheuerliche Folgen.’"

Immerhin ist es Günter Grass gelungen, im SZ-Interview einen Wunsch zu artikulieren, dem sich Freunde und Feinde - von Grass natürlich, nicht von Israel; dessen Feinde sind ganz anderer Meinung - gern anschließen werden:

"Ich (…) wünsche, dass dieses Land Bestand hat und endlich gemeinsam mit seinen Nachbarn Frieden findet."