Von Arno Orzessek

Viele verschiedene Themen beschäftigen heute die Feuilletons: Die "SZ" befasst sich mit dem Thema Sex in Martin Amis Buch "Die schwangere Witwe", die "Welt" versetzt Thomas Manns "Der Tod in Venedig" den Todesstoß, weil Homosexualität ihr "Skandalaroma" eingebüßt hat und die "FAZ" verlacht den Burnout.
"'Wir dürfen hier in Klammern anmerken, dass praktisch jeder sterbende Mann sich wünscht, sehr viel mehr Sex mit sehr viel mehr Frauen gehabt zu haben'","

heißt es in dem Roman "Die schwangere Witwe" von Martin Amis.

""Für die Frauen - das dürfen wir in Klammern hinzufügen - gilt selbstverständlich umgekehrt genau dasselbe","

konzediert Rezensent Jörg Magenau in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und charakterisiert Amis' Roman über die Metamorphosen der Libido im 20. Jahrhundert als Genre-Zwitter "zwischen Slapstick und Elegie":

""Unter der Heiterkeit der Oberfläche wird eine tiefe Trauer sichtbar: Das hat damit zu tun, dass die Liebe vielleicht nicht nur verlagert und vom Sex abgetrennt wurde, sondern dabei verloren gegangen ist."

Gar nicht zur Sache selbst gekommen ist Gustav von Aschenbach, der liebessüchtige Lagunen-Tourist in Thomas Manns edel-schwülstiger Novelle "Der Tod in Venedig" - von der die Ausstellung "Wollust des Untergangs" im Lübecker Buddenbrookhaus handelt.

Unter dem Titel "Als Lübeck am Lido lag" behauptet Tilman Krause in der Tageszeitung DIE WELT, "Der Tod in Venedig" habe

"wahrscheinlich von allen kanonischen Texten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts am meisten an Prestige verloren."

Krauses Begründung:

"[Die Novelle] gilt, mit Recht, als 'angestrengt', als überinstrumentiert, ja kunstgewerblich, weil hier ein so unglaublicher geistesgeschichtlicher Aufwand getrieben wird, um ein Thema salonfähig zu machen, das sein Skandalaroma längst eingebüßt hat, das homosexuelle Begehren nämlich."

So, so: Skandalaroma eingebüßt also.

Was aber liest man in der SZ?

"Von Sankt Petersburg über die US-Rechte bis hin zu den Führern Afrikas - der Hass auf Homosexuelle nimmt zu."

Tim Neshitov berichtet nicht zuletzt über das "Gesetz gegen Schwulenpropaganda", das im Petersburger Stadtparlament verabschiedet wurde und nach dem Willen der ehemaligen Bürgermeisterin Matwijenko auf ganz Russland ausgedehnt werden soll.

"Damit avancieren Homosexuelle - neben Juden und 'Kaukasiern' - endgültig zu einer Minderheit, die hauptsächlich einem Zweck dient: der Abgrenzung jenes schwammigen Gebildes, das populistische Machthaber 'die russische Seele' nennen. [ ... ] Der legislativen Mehrheit gilt Homosexualität als 'eine unrussische Krankheit', als eine Sünde oder beides", "

erklärt SZ-Autor Neshitov unter dem Titel "Gefährliche Reinheitsphantasien".

Wir bleiben beim Körperlichen.

Als ginge es um eine echte Krankheit, wurde dem Burnout bekanntlich eine tolle mediale Karriere bereitet.

"Die Magazinmacher leiden unter dem wahren Burnout", höhnt deshalb Christian Geyer in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, vermaledeit mit geschwollener Zornesader die bunte Burnout-Presse und lässt den Klinikleiter Markus Pawelzik das letztinstanzliche Urteil sprechen:

""'Die ursprüngliche Idee, Burnout als eine Art berufsbedingter psychischer Störung zu etablieren, die insbesondere durch hohe Arbeitsüberlastung und eingeschränkte Handlungsmöglichkeit verursacht sei, kann als gescheitert gelten. Es besteht noch nicht einmal ein Anfangsverdacht, dass es sich um einen ätiologisch oder pathogenetisch spezifischen Prozess handelt.'"

Wir überspringen hier die Übersetzung von 'ätiologisch' und 'pathogenetisch' und kommen zum Wetter, genauer gesagt, zu dem Artikel "Ein Gespür für Schnee" in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.

Philipp Meier schreibt über die Ausstellung "Ein Wintermärchen" im Kunsthaus Zürich in vollendet meteorologisch-erotischer Diktion:

"Wäre er indes nur klirrende Eiseskälte, was wäre der Winter mehr als bloss ein williger Vollstrecker des Todes. Seine weisse Schönheit hält dem schwarzen Komplizen aber doch einiges entgegen. Er gibt sich als Verführungskünstler, und als Verführte gibt sich ihm die Kunst noch so gerne hin."

Unser letztes Wort sei: Ein Bravissimo auf diese Sätze!