Von Arno Orzessek

Die "Welt" deutete den Ausgang der Bundestagswahl als Ausdruck der immer wieder gern zitierten "German Angst". Die "TAZ" empörte sich über die Fünf-Prozent-Klausel. "Die Zeit" wiederum beschwerte sich über den Konservatismus in der bildenden Kunst. Und die "FAZ" schickte dem verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ein "Lesewohl" hinterher.
"Liberale raus, Grüne runter, alles hört jetzt auf Mutti Merkels Kommando",

resümierte Tilmann Krause in der Tageszeitung DIE WELT das Ergebnis der Bundestagswahl vom letzten Sonntag …

… und lieferte unter dem Titel

"Grundformen der Angst"

eine hämische Deutung:

"Das mutmaßlich reichste Land der Erde suhlt sich geradezu in Sorgen. Der Euro, die Mieten, die Demografie – alles kann nur noch schlimmer werden. Da drängt dann ein jeglicher in die soziale Mitte. Man würde erwarten, dass bei so vielem objektivem Wohlstand der Gesellschaft experimentelle, alternative Formen der Politik eine Blütezeit erlebten. Aber wir befinden uns ja im Land der 'German Angst'. Da ist man augenscheinlich der Meinung: Weiter wie bisher. Nur was wir kennen, tut uns gut."

Weil es mehrere kleinere Parteien – FDP, AfD, die Piraten – nicht in den Bundestag geschafft haben, wandte sich die TAGESZEITUNG gegen die Fünf Prozent-Hürde – einst aufgestellt, um der Bundesrepublik Weimarer Verhältnisse mit bis zu 17 Parteien zu ersparen.

Unter der Überschrift

"Weimar ist nicht mehr"

desavouierte der TAZ-Autor Stefan Reinecke die Hürde als bloße

"Gewohnheit"

mit schädlichen Folgen.

"Fast jeder sechste Wähler ist nach der jüngsten Bundestagswahl nicht im Parlament vertreten. Und wie bigott ist es, die Krise der Repräsentation in der Mediendemokratie zu beklagen, aber achselzuckend hinzunehmen, dass fast sieben Millionen Stimmen unter den Tisch fallen? Zum Vergleich: Linkspartei und Grüne zusammen" [beide im neuen Bundestag]" wurden von 7,4 Millionen Menschen gewählt. Das kann nicht der adäquate Ausdruck des Wählerwillens sein."

Aber wie wäre es zur Abwechslung mit einer Minderheitsregierung, in diesem Fall der Unions-Parteien?

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG fand der Staatsrechtler Christoph Möllers die Idee grundsätzlich gut.

"Aus normativer Sicht muss man nichts gegen Minderheitsregierungen haben. Eine Minderheitsregierung bezieht ja die Position, dass sie die größte Zahl der Leute repräsentiert, die Verantwortung übernehmen wollen. […] Diejenigen, die handeln, haben auch das Mandat, dies zu tun, solange die anderen nichts tun. Und theoretisch wäre unsere Demokratie auch durchaus reif dafür."

Das Wort ‚theoretisch‘ verriet bereits, dass Möllers letztlich doch zurückzuckte.

"Ich habe den Verdacht, dass wir in Deutschland nicht […] [für Minderheitsregierungen] gemacht sind. Unser Stabilitätsbedürfnis ist groß. Dass bei jeder Entscheidung erst mal offen bleibt, wie die Regierung weiterkommt, das ist für die Nerven der deutschen Öffentlichkeit, glaube ich, nicht das Richtige."

Derweil bangte Frank Schirrmacher in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG um die Sozialdemokratie …

… und empfahl ihr, verkürzt gesagt, sich an seiner eigenen Besorgtheit über den Zustand der Informationsökonomie im Zeichen von Big Data und Ausspähung zu orientieren.

"Die Sozialdemokraten müssen sich fragen, welche Rolle sie in der industriellen Revolution der Jetztzeit spielen wollen […]. […] [Es] geht […] um nicht weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen den Menschen und den [digitalen] Maschinen (oder besser: ihren Besitzern), die sie ersetzen, verändern und überwachen. […] Ob die SPD dazu in der Lage ist, ist keineswegs ausgemacht; denn in Wahrheit sträubt sie sich auch deshalb, weil die digitale Revolution eine Revolution ihrer selbst sein wird",

behauptete Frank Schirrmacher. –

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch in der vergangen Woche waren die politischen Feuilletons in der Minderzahl, mehrheitlich ging‘s wie immer um Kunst und Kultur. Der Bildenden Kunst stellte Hanno Rauterberg in der Wochenzeitung DIE ZEIT allerdings ein verheerendes Zeugnis aus.

"Nie war die Gegenwartskunst populärer als heute. Noch immer gilt sie als radikale, progressive Kraft. Doch in Wahrheit schwelgen viele Künstler in Nostalgie, und neuer Konservatismus beherrscht die Szene."

Generalabrechnungen mit kompletten Kunstgattungen kommen im Feuilleton selten vor – deshalb hier ein längerer Auszug.

"Die wenigsten Künstler möchten sich festlegen, auf ein Material, ein Sujet, einen Stil. Sie führen ein multioptionales Dasein, machen mal dieses, mal jenes. Und auch ihre Werke sind so angelegt: Sie können alles bedeuten, und im Zweifel bedeuten sie nichts. Sie sollen offen erscheinen, und sind doch oft nur leer. Jeder kann hineinlesen, was immer er möchte – und so bietet diese Kunst vor allem eines: Selbstbestätigung und eine Überhöhung des Status quo. Nicht zuletzt deshalb ist Gerhard Richter einer der letzten Helden der Gegenwart: Seine Bilder sind garantiert überraschungs- und konfliktfrei. Sind herrlich diffus und nichtsbedeutend. Man kann sich bequem in ihnen zurücklehnen",

polemisierte Hanno Rauterberg.

Für starke Töne und starken Tobak viel geliebt und kaum weniger gehasst – das wurde Marcel Reich-Ranicki.

Über den Bericht von der Trauerfeier zu seinem Angedenken setzt die SZ den Titel

"Gut!" [Ausrufezeichen],

einfach nur "Gut!".

Johan Schloeman konstatierte – so ergriffen, dass ihm der Tonfall pomadig geriet:

"Dankbarkeit, Ehrfurcht, Staunen, Schmunzeln. Niemals mehr wird eine Kulturpersönlichkeit in Deutschland gleichermaßen die Sphären von ‚E‘ und ‚U‘ mit solcher Kraft und Geltung erreichen. Das haben alle gespürt, die der Trauerfeier […] für Marcel Reich-Ranicki beigewohnt haben […]. Die Stunde des Abschieds auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt am Main, sie begann mit Johann Sebastian Bach und endete mit Puccinis 'Bohéme' und Thomas Gottschalk."

Die FAZ druckte unter dem Titel

"Held des Vergebens"

die Trauerrede Gottschalks – nach eigenem Bekunden übrigens ein

"Vertreter der geistigen Mittelklasse".

"Marcel, du hättest tausend Gründe gehabt, dieses Land, nach dem, was es dir angetan hat, zu hassen. Aber nichts hat dir die Liebe zu seiner Musik und seiner Literatur nehmen können, und nichts, aber auch gar nichts in deinem langen Leben konnte dich davon abhalten, uns, den Nachfahren deiner Feinde, diese Liebe wiederzugeben."

Am schönsten verabschiedete sich der FAZ-Autor Andreas Platthaus von Marcel Reich-Ranicki, dessen Heimat die Literatur gewesen war:

"Sein Reich bleibt. Dem Fürst ein Lesewohl."