Von Arno Orzessek
Der in dieser Woche verstorbene Marcel Reich-Ranicki fand das Alter "fürchterlich", wie in der "Welt" zu lesen ist. In der "SZ" fragt Johan Schloemann: "Wie demokratisch sind Wahlprognosen?" Und Juli Zeh wettert in der "FR" gegen ein oft zitiertes Argument zwecks Verharmlosung der NSA-Spähaffäre. "Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren."
"Dieser Mann war in Verfolgung und Ruhm die Personifikation des zwanzigsten Jahrhunderts. […] Einen wir ihn werden wir nicht wiedersehen. Es stimmt nicht, dass jeder ersetzbar ist. Manche werden im Tod zur dauernden Abwesenheit, und er ist nun eine solche",
verbeugte sich Frank Schirrmacher in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vor Marcel Reich-Ranicki, der Mitte der Woche im Alter von 93 Jahren gestorben ist.
Dass Reich-Ranicki das Leben angesichts des heraufdämmernden Todes schwer geworden war, das vermittelte Ulrich Weinzierl in der Tageszeitung DIE WELT.
"Er war kein glücklicher Patriarch, im Gegenteil: Er hasste die körperlichen Beeinträchtigungen durch das hohe Alter. Nie sah er, was er noch konnte, stets nur, was er nicht mehr konnte. […] Sein wichtigster Text aus jüngster Zeit war ein Interview […]. Nach eventuellen Vorteilen des Greisentums befragt, gab er so bündige wie radikale Antwort: Altersweisheit, Altersmilde – das sei bloß ‚sentimentales Geschwätz. Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war […].‘ Mit dem Gedanken an den Tod könne man nicht fertig werden. ‚Er ist völlig sinnlos und vernichtend.‘ So war […] [Reich-Ranicki]: Schmerzhaft klare, deutliche Worte bis zuletzt",
hielt Ulrich Weinzierl in der WELT fest.
Auffallend viele Autoren enthielten sich in ihren Nachrufen der genretypisch reinen Lobhudelei – darunter Ina Hartwig in der TAGESZEITUNG.
"Literatur, so Reich-Ranickis Anspruch, musste ihn persönlich ansprechen, berühren, überzeugen; was er nicht verstand, was ihm nicht gefiel, wurde verdammt, aussortiert, ignoriert. […] Alles, was sich Avantgarde nannte oder vermeintlich unsinnlich auf ihn wirkte, prallte an Reich-Ranicki geradezu lüstern ab. In Zuspitzung und Abwehr war er ein Meister, immer bereit, sich um der Pointe willen dümmer zu stellen, als er war."
Reich-Ranicki hätte Ina Hartwig wohl zugestimmt. Wirkung war ihm wichtiger als Subtilität.
Im Rückblick auf das "Literarische Quartett" zitierte Johannes Willms in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG diese Selbstauskunft des Kritikers:
"‚Gibt es im ‚Quartett‘ ordentlich Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.‘"
Lieber Marcel Reich-Ranicki! Wir rechnen fest damit, dass Sie nun zur Rechten Gottes sitzen und ihn runtermachen, weil er die zehn Gebote damals nicht packender hinbekommen hat. Viel Spaß dabei! –
Und nun weiter im politischen Diesseits.
In der WELT erklärte ausgerechnet der englische Musiker Peter Gabriel seine Sicht auf Angela Merkel und die Bundestagswahl.
#"Angela Merkel handelt, wie ich wirklich glaube, aus Überzeugung. Das gefällt mir, unabhängig davon, ob ich ihr zustimme oder nicht. […] Der Wahlausgang in Deutschland wird einen Schlüsseleffekt für Europa haben. Deutschland ist in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht für Europa, was China für den Rest der Welt ist, das Kraftwerk. Eine visionäre Sichtweise zur Gemeinschaft Europas ist von Nöten. Deshalb wird es wohl Zeit für einen Regierungswechsel."
So die Wahlempfehlung Peter Gabriels …
Die laut SZ folgenlos bleiben wird.
"Steinbrück wird nicht Kanzler",
hieß dort eine Überschrift.
Allerdings beanspruchte SZ-Autor Johan Schloemann keine prophetischen Gaben. Er fragte vielmehr:
"Wie demokratisch sind Wahlprognosen?"
"Wer braucht sie eigentlich, von den Parteistrategen abgesehen? Wenn alle sagen: Wir wissen ja schon genau, wie es ausgeht!‘, dann wirkt das […] nicht gerade mobilisierend. Und strategische Wahlentscheidungen mit Blick auf Koalitionen – Beispiel: Zweitstimme FDP – können oft auch danebengehen. Demokratie braucht […] eine gewisse Unsicherheit. Man könnte auch sagen: den menschlichen Faktor."
Apropos menschlicher Faktor!
Unter dem Titel
"Die fatale Schweigespirale"
warf der Parteienforscher Franz Walter in der TAZ den Grünen inklusive Spitzenkandidat Jürgen Trittin vor, im Namen der sexuellen Befreiung einst pädophiles Gedankengut akzeptiert zu haben.
"Ein gewichtiger Teil der Grünen sog in den frühen 1980er Jahren begierig alle jene Positionen auf, die eine Fundamentalliberalisierung versprachen […]. Die Schattenseiten einer Deregulierung des Sexualstrafrechts blieben infolgedessen ausgeblendet. Bei den Grünen, wie bei vielen Bürgerrechtsliberalen, sah man so anfangs über die strukturellen Macht- und Durchsetzungsdifferenzen zwischen Erwachsenen und Kindern hinweg. Man setzt sich nicht damit auseinander, wie subtil der Wille von Kindern jenseits der Anwendung von Gewalt gebrochen werden kann."
Walters Worte klingen im Wahlkampf natürlich wie ein gefundenes Fressen für das schwarz-gelbe Regierungslager, das ja gern Sittsamkeit für sich beansprucht.
Aber Achtung: Nicht verschlucken!
"So mancher Biedermann von CDU oder CSU, der sich jetzt über das vermeintliche Versagen des Herrn Trittin empört, stammt aus Bundesländern, die sich beharrlich weigern, ihren finanziellen Beitrag zur Entschädigung von Missbrauchsopfern zu leisten",
warnte Volker Breidecker in der SZ vor Scheinheiligkeit.
Absehbar scheint unterdessen, dass der NSA- und Ausspäh-Skandal das Wahlergebnis kaum beeinflusst.
Was der Schriftstellerin Julie Zeh weh tut. Sie gab in der FRANKFURTER RUNDSCHAU zu bedenken:
"‘Die Fähigkeit, Geheimnisse zu haben, oder anders gesagt: das Bewusstsein dafür, dass es eine Intimzone gibt, ist eigentlich das, was den Menschen wirklich ausmacht. Es ist etwas, das zu unserem Wesensgehalt gehört, zu unserer Würde. Ein Gefühl von Scham, ein Gefühl von Peinlichkeit, ein Gefühl, nicht angeschaut werden zu wollen, das schützt unsere Identität. […] Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. […] Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren.‘"
Gern wiederholen wir diesen Satz … Man sollte ihn notorischen Verharmlosern wie Kanzleramtsministers Pofalla mit rotem Edding hinter die Ohren schreiben.
Also noch einmal Julie Zeh:
"!‘Wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren.‘!"
In diesem Sinne: Schönen Wahlsonntag, liebe Hörer! Nehmen Sie Ihre Kreuze auf sich!
verbeugte sich Frank Schirrmacher in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vor Marcel Reich-Ranicki, der Mitte der Woche im Alter von 93 Jahren gestorben ist.
Dass Reich-Ranicki das Leben angesichts des heraufdämmernden Todes schwer geworden war, das vermittelte Ulrich Weinzierl in der Tageszeitung DIE WELT.
"Er war kein glücklicher Patriarch, im Gegenteil: Er hasste die körperlichen Beeinträchtigungen durch das hohe Alter. Nie sah er, was er noch konnte, stets nur, was er nicht mehr konnte. […] Sein wichtigster Text aus jüngster Zeit war ein Interview […]. Nach eventuellen Vorteilen des Greisentums befragt, gab er so bündige wie radikale Antwort: Altersweisheit, Altersmilde – das sei bloß ‚sentimentales Geschwätz. Das Alter ist fürchterlich. Es raubt einem nach und nach alles, was einem lieb und wichtig war […].‘ Mit dem Gedanken an den Tod könne man nicht fertig werden. ‚Er ist völlig sinnlos und vernichtend.‘ So war […] [Reich-Ranicki]: Schmerzhaft klare, deutliche Worte bis zuletzt",
hielt Ulrich Weinzierl in der WELT fest.
Auffallend viele Autoren enthielten sich in ihren Nachrufen der genretypisch reinen Lobhudelei – darunter Ina Hartwig in der TAGESZEITUNG.
"Literatur, so Reich-Ranickis Anspruch, musste ihn persönlich ansprechen, berühren, überzeugen; was er nicht verstand, was ihm nicht gefiel, wurde verdammt, aussortiert, ignoriert. […] Alles, was sich Avantgarde nannte oder vermeintlich unsinnlich auf ihn wirkte, prallte an Reich-Ranicki geradezu lüstern ab. In Zuspitzung und Abwehr war er ein Meister, immer bereit, sich um der Pointe willen dümmer zu stellen, als er war."
Reich-Ranicki hätte Ina Hartwig wohl zugestimmt. Wirkung war ihm wichtiger als Subtilität.
Im Rückblick auf das "Literarische Quartett" zitierte Johannes Willms in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG diese Selbstauskunft des Kritikers:
"‚Gibt es im ‚Quartett‘ ordentlich Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.‘"
Lieber Marcel Reich-Ranicki! Wir rechnen fest damit, dass Sie nun zur Rechten Gottes sitzen und ihn runtermachen, weil er die zehn Gebote damals nicht packender hinbekommen hat. Viel Spaß dabei! –
Und nun weiter im politischen Diesseits.
In der WELT erklärte ausgerechnet der englische Musiker Peter Gabriel seine Sicht auf Angela Merkel und die Bundestagswahl.
#"Angela Merkel handelt, wie ich wirklich glaube, aus Überzeugung. Das gefällt mir, unabhängig davon, ob ich ihr zustimme oder nicht. […] Der Wahlausgang in Deutschland wird einen Schlüsseleffekt für Europa haben. Deutschland ist in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht für Europa, was China für den Rest der Welt ist, das Kraftwerk. Eine visionäre Sichtweise zur Gemeinschaft Europas ist von Nöten. Deshalb wird es wohl Zeit für einen Regierungswechsel."
So die Wahlempfehlung Peter Gabriels …
Die laut SZ folgenlos bleiben wird.
"Steinbrück wird nicht Kanzler",
hieß dort eine Überschrift.
Allerdings beanspruchte SZ-Autor Johan Schloemann keine prophetischen Gaben. Er fragte vielmehr:
"Wie demokratisch sind Wahlprognosen?"
"Wer braucht sie eigentlich, von den Parteistrategen abgesehen? Wenn alle sagen: Wir wissen ja schon genau, wie es ausgeht!‘, dann wirkt das […] nicht gerade mobilisierend. Und strategische Wahlentscheidungen mit Blick auf Koalitionen – Beispiel: Zweitstimme FDP – können oft auch danebengehen. Demokratie braucht […] eine gewisse Unsicherheit. Man könnte auch sagen: den menschlichen Faktor."
Apropos menschlicher Faktor!
Unter dem Titel
"Die fatale Schweigespirale"
warf der Parteienforscher Franz Walter in der TAZ den Grünen inklusive Spitzenkandidat Jürgen Trittin vor, im Namen der sexuellen Befreiung einst pädophiles Gedankengut akzeptiert zu haben.
"Ein gewichtiger Teil der Grünen sog in den frühen 1980er Jahren begierig alle jene Positionen auf, die eine Fundamentalliberalisierung versprachen […]. Die Schattenseiten einer Deregulierung des Sexualstrafrechts blieben infolgedessen ausgeblendet. Bei den Grünen, wie bei vielen Bürgerrechtsliberalen, sah man so anfangs über die strukturellen Macht- und Durchsetzungsdifferenzen zwischen Erwachsenen und Kindern hinweg. Man setzt sich nicht damit auseinander, wie subtil der Wille von Kindern jenseits der Anwendung von Gewalt gebrochen werden kann."
Walters Worte klingen im Wahlkampf natürlich wie ein gefundenes Fressen für das schwarz-gelbe Regierungslager, das ja gern Sittsamkeit für sich beansprucht.
Aber Achtung: Nicht verschlucken!
"So mancher Biedermann von CDU oder CSU, der sich jetzt über das vermeintliche Versagen des Herrn Trittin empört, stammt aus Bundesländern, die sich beharrlich weigern, ihren finanziellen Beitrag zur Entschädigung von Missbrauchsopfern zu leisten",
warnte Volker Breidecker in der SZ vor Scheinheiligkeit.
Absehbar scheint unterdessen, dass der NSA- und Ausspäh-Skandal das Wahlergebnis kaum beeinflusst.
Was der Schriftstellerin Julie Zeh weh tut. Sie gab in der FRANKFURTER RUNDSCHAU zu bedenken:
"‘Die Fähigkeit, Geheimnisse zu haben, oder anders gesagt: das Bewusstsein dafür, dass es eine Intimzone gibt, ist eigentlich das, was den Menschen wirklich ausmacht. Es ist etwas, das zu unserem Wesensgehalt gehört, zu unserer Würde. Ein Gefühl von Scham, ein Gefühl von Peinlichkeit, ein Gefühl, nicht angeschaut werden zu wollen, das schützt unsere Identität. […] Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. […] Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren.‘"
Gern wiederholen wir diesen Satz … Man sollte ihn notorischen Verharmlosern wie Kanzleramtsministers Pofalla mit rotem Edding hinter die Ohren schreiben.
Also noch einmal Julie Zeh:
"!‘Wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren.‘!"
In diesem Sinne: Schönen Wahlsonntag, liebe Hörer! Nehmen Sie Ihre Kreuze auf sich!