Von Arno Orzessek

07.09.2013
Der Kampf um Syrien, der Wahlkampf in Deutschland und der Tanz um eine leere Mitte machen Schlagzeilen in den deutschen Feuilletons.
Sie kennen das, liebe Hörer! Es gibt Wochen, in denen die Feuilletons von wenigen XL-Themen dominiert werden.

Die vergangene aber gehörte nicht zu diesen Wochen. Befassen wir uns also mit dem Vermischten.

"Nehmt den Worten ihre faule Mystik!" polterte – frei nach Bertolt Brecht – die Tageszeitung DIE WELT.

Laut Redenschreiber Vazrik Bazil hat das Wort ‚Werte‘ in politischen Debatten nichts verloren. Es werde nämlich stets insinuiert, so der WELT-Autor …

"dass Werte moralisch gut seien. Wir fühlen uns auf der sicheren Seite, wenn wir sagen, wir leben in einer ‚Wertegemeinschaft‘. Vergessen wir [aber] nicht, dass die Nationalsozialisten genauso eine ‚Wertegemeinschaft‘ bildeten wie Kommunisten. Werteorientiert zu leben oder eine Wertegemeinschaft zu bilden, sagt nichts über die moralische Qualität aus."

Dem würde Angela Vettese – im Blick auf uns Teutonen – allemal zustimmen.

Wie die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG unter dem Titel "Nachricht über Genozidistan" berichtete, hat die italienische Kunsthistorikerin und Kulturassessorin von Venedig die Deutschen übel angemacht – und zwar mit dem Anwurf:

"Sie haben alle 50 Jahre versucht, die europäischen Einheitsversuche zu zerstören. Sie haben ununterbrochen Völkermord begangen, von den Wiedertäufer-Rebellen in Münster über die Juden zu den Griechen. Die nächsten sind wir, die Italiener."

FAZ-Autor Dirk Schümer nahm den Wutausbruch ernst.

"Vettese spricht immerhin laut aus, was in Italien viele denken. Was der Euro […] wirtschaftlich an weiteren Schäden anrichten wird, ist nicht abzusehen. Was er in den Köpfen der Menschen für den nationalistischen Hass in Europa getan hat, lässt sich längst nicht mehr leugnen."

Wohin das alles führen wird, das weiß der Himmel. Wohin der innenpolitische Hass in Syrien geführt hat, das weiß alle Welt…. Und fragt sich nach den Giftgas-Anschlägen, ob Eingreifen nottut.

Der Historiker Götz Aly riet in der BERLINER ZEITUNG davon ab:

"Wenn mir jemand sagen würde, wie ein militärischer Einsatz in Syrien aussehen kann, der wenigstens zum Waffenstillstand führte, ich wäre dafür. Dem jetzt zumindest aufgeschobenen Plan zum Strafbombardement fehlte […] jede Perspektive für den Tag danach."

Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek will um alles in der Welt den Sturz von Asads Regime – und erhofft sich von einem westlichen Militärschlag trotzdem wenig.

"Wir wissen, dass die Aktionen des Westens nicht vom Wunsch herrühren, uns zu beschützen, man hat uns mehr als zweieinhalb Jahre lang sterben lassen. Bei einem Luftangriff, der sich auf militärische […] Ziele beschränkt, wäre davon auszugehen, dass Infrastruktur und Zivilisten nach Möglichkeit verschont werden […]. Allerdings fallen schon jetzt so viele Syrer Asads Artillerie zum Opfer, dass weitere Tote kaum mehr ins Gewicht fallen würden","

beklagte Yazbek in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.

Vom Kampf in Syrien zum Wahlkampf in Deutschland.

In der Wochenzeitung DIE ZEIT verrieten Intellektuelle, wem sie am 22. September ihre Stimme geben. Michael Rutschky erklärte:

""Ich möchte keine Wahlempfehlung aussprechen, und ich möchte nicht begründen, warum ich keine Wahlempfehlung ausspreche. Ich persönlich werde, wie immer, die SPD wählen. Seit Luhmann erkennen wir doch im Paradox …"

Auch die Autorin Jana Hensel sah sich in der Zwickmühle:

"Als Frau und Ostdeutsche muss ich natürlich Angela Merkel wählen. Als Frau und Ostdeutsche kann ich natürlich nie im Leben CDU wählen. Und weil es zwischen diesen beiden Sätzen für mich nicht viel gibt, habe ich schon vor vier Jahren gar nicht gewählt. Ich bin politisch ortlos, fühle mich fast ein wenig verloren und habe manchmal das Gefühl, der Kanzlerin damit ziemlich nah zu sein."

So die Nichtwählerin Jana Hensel in der ZEIT.

Viel feuilletonistische Aufmerksamkeit richtete sich auf die Festivals, die auch diesen Spätsommer schmücken.

Unter dem Titel "Hier tanzt die Welt um eine leere Mitte" machte Manuel Brug in der WELT das Berliner Festival "Tanz im August" nieder:

"‘Tanz im August‘ ist ein engstirniges Ereignis geworden, sich aus der immer gleichen, eingleisigen, in sich selbst kreiselnden Antiästhetik im engmaschigen Austausch- und Auftragsnetz miteinander verknüpfter Kuratoren speisend. Das ganz gewöhnliche, an Tanz interessierte Publikum aber steht außen vor."

Auf dem Filmfestival in Venedig gab’s erstaunliche Neuigkeiten über Femen. Offenbar wurde die berühmte Kampforganisation des Neuen Feminismus, die gern nackte Tatsachen schafft, lange von dem herrschsüchtigen Macho Viktor Swjazkij dominiert.

Das förderte der Dokumentarfilm "Die Ukraine ist kein Bordell" der australischen Filmemacherin Kitty Green zu Tage.

"Ist nun also das freiheitlich-kratzbürstige Image von Femen dahin? Entlarvt, blamiert, diskreditiert?" fragten sich die SZ-Autoren Tobias Kniebe und Tim Neshitov, betonten aber, dass Femen den brüllenden Pascha irgendwann vor die Tür gesetzt habe.

Dass man es brillant und trotzdem nicht allen recht machen kann, das erfuhr Daniel Kehlmann – falls er NZZ gelesen hat.

Andreas Breitenstein lobte Kehlmanns neuen Roman "F" - und verriss ihn praktisch im selben Atemzug.

"Brillant ist die Zeitgeistanalyse und ätzend die Persiflage auf den Kulturbetrieb, klug die Gedankenführung und witzig der Wust an Anspielungen, doch zieht man all das Smarte ab, hat Kehlmann nicht viel zu erzählen. Plakativ bleibt der Plot und chargenhaft die Personnage. Die Leere, die der Roman diagnostiziert, holt ihn von innen her ein. […] Große Literatur atmet das offene, die Seele verläuft sich in ihr. Hier aber fühlt man sich am Nasenring durch die Manege gezogen."

Wir enden staatstragend. Heribert Prantl feierte in der SZ den 60. Geburtstag der Europäischen Menschenrechtskonvention und bejubelte "Europas Rechtskraft".

"Der heutige Tag lehrt, was Europa im Innersten zusammenhält: Nicht der Euro, sondern der Glaube an die Kraft des Rechts; der Glaube daran, dass die Stärke des Rechts das Recht des Stärkeren ersetzen kann und muss."

Liebe Hörer, hier unsere Sonntagsfrage: Könnte es sein, dass die viel besungene Stärke des Rechts auch nur auf der faulen Mystik der Worte beruht?