Von Arno Orzessek

In der vergangenen Woche drängten die großen Themen und Thesen in den Feuilletons nach vorn: Gerechtigkeit, Empörung, Sozialstreit. Nahezu alle Zeitungen hadern mit den „Brüdern Karamasow“ und feiern den 200. Geburtstag von Sören Kierkegaard.
Oft ist ja das Schönste an den Feuilletons das Randständige, Putzige und Kleine, Intelligentes ohne Relevanz und Schreibkunst ohne Botschaft. Aber darauf können wir heute keine Rücksicht nehmen….

Denn in der vergangenen Woche drängten die großen Themen und Thesen nach vorn, bei-spielhaft abzulesen an einer Überschrift in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Dort hieß es:

"Wer Gerechtigkeit will, muss über Macht reden."

Und kam dieser Gedanke auch nicht gerade taufrisch rüber, so leitete er Jens Bisky doch zu einer Generaleinschätzung an, die Gemütslage der Nation betreffend.

"Das tiefe Gefühl der Ungerechtigkeit hat wohl doch darin seine tiefste Ursache, dass sehr vielen Menschen von Jahr zu Jahr stärker bewusst wird, wie prekär ihr Wohlstand, ihr Lebensstandard sind. Ihnen ist an einer Stärkung der Arbeitnehmerrechte, an Mindestlöhnen, an der Verlässlichkeit des Sozialstaats wahrscheinlich mehr gelegen als an 68 oder 84 Euro mehr im Monat."

Jens Bisky, neuerdings offenbar Experte fürs Tiefe und Tiefste, könnte durchaus Recht haben. So oder so würde sein nüchterner, nie aufmüpfiger Ton den Beifall Julia Kristevas finden.

Die französische Psychoanalytikerin empörte sich in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über die Mode der Empörung, die nicht zuletzt Stephane Hessel mit dem millionenfach verkauften Schriftlein "Empört Euch!" ausgelöst hatte.

"In meinen Augen ist die Empörung romantisch, eine von Abwehr und Zorn geprägte und jugendlich-unreife Reaktion, die keine glaubwürdige Alternative benennt, weil sie keinerlei Interaktion mit dem anderen vorsieht. Sie denkt nicht an den anderen. Es ist eine Haltung, die zum Dogmatismus verleitet; sie ist ihrem Wesen nach totalitär und todbringend. Die Empörung ist eine europäische Sünde, ein negativer Narzissmus."

Wie gesagt: Es herrschte kein Mangel an großen Worten. Einige Worte Kristevas gerieten so groß, dass man besser von Blasen spricht – zum Beispiel folgende Worte:

"Auf meiner Couch müsste Europa sich […] fragen, was es ist und wohin es geht. Europa hat nicht verstanden, dass seine kulturelle Identität eine außergewöhnliche Chance darstellt. Sein Heil hängt davon ab, dass es an dieser Identität festhält", "

schurigelte Julia Kristeva unseren schönen Kontinent in der FAZ.

Da wir schon beim Schurigeln sind: Selbiges tat in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad mit dem gesamten Westen, weil dieser die syrische Opposition nicht tatkräftig unterstützt.

""Die Heuchelei des Westens ist grenzenlos. Am Anfang hörten wir von Obama, die Tage Asads seien gezählt, mittlerweile scheinen sie unendlich zu sein. Es hieß einmal, man wolle Asad einen Strich durch die Rechnung machen, jetzt scheint es, als wolle man der Revolution einen Strich durch die Rechnung machen. […] Die Syrer sind heute der Meinung, dass der Westen syrisches Blut an den Händen hat", "

übermittelte Fawwaz Haddad in der NZZ. Im Westen des Westens liegt Kalifornien… Und was dieser sonnige Landstrich der Welt gegeben und genommen hat, davon handelt die Ausstellung "The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen" im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

In der SZ schrieb Jörg Häntzschel unter dem ersten Foto des Planeten Erde, wie er sich in ganzer Schönheit durch die Unendlichkeit dreht – aufgenommen 1968 von den Apollo-8-Astronauten:

""Das kalifornische Dogma der Selbstoptimierung, der Wellness und Fitness und die systemerhaltende Annahme, Glück und Erfolg seien eine Frage der Einstellung, nicht der Umstände, hat sich weltweit durchgesetzt. Eine ähnliche Karriere machten die autoritätskritischen und anti-etatistischen Ideen der kalifornischen Gegenkultur [vulgo: der Hippies]. Die Selbstbefreiung ging fast nahtlos über in die Befreiung der Märkte."

Tja, auch das ist jetzt schon eine ältere These. Aber sei’s drum. Was der alte Bart Fjodor Dostojewski über Gott und die Welt zu sagen hatte, treibt die Feuilletons ja auch noch um…. Zum Beispiel anlässlich der Dramatisierung der "Brüder Karamasow" durch Regisseur Luk Perceval am Hamburger Thalia-Theater.

Peinlich berührt fühlte sich die NZZ. Dirk Pilz motzte unter der hämischen Überschrift "Die Brüter im Geiste":

"Was der Besucher von dieser Exotenschau mitnimmt, ist allenfalls die Groschenroman-Erkenntnis, dass jeder Glaube und jede Wahrheit irgendwie relativ ist und alle Extreme irgendwie komisch sind. Ach was."

Aus dem Häuschen dagegen: FAZ-Autor Volker Corsten. Ihm hatten sich die Zauberworte, die Aljoscha Karamasow in der Hamburger Aufführung über die Lippen kommen, in die Seele geprägt:

"‘Alles ist nichts ohne ein Gefühl für Gott‘, sagt er […]. Ruhig. Ernst. Ungeschützt und kitschfrei. Niemand hätte in diesem Moment gewagt, diesem mutigen Mann zu widersprechen."

Es sei erwähnt, dass zum 50. Berliner Theatertreffen viele Artikel veröffentlicht wurden, die den gleichen Tenor hatten: Man muss "Die zweitunwichtigste Sache der Welt", wie sie in der BERLINER ZEITUNG genannt wurde, nicht für voll nehmen, um sie gleichwohl für sinnvoll zu halten und irgendwie und trotz allem herzlich zu lieben, aber auch zu hassen.

Nun zum Finale. An diesem Sonntag jährt sich der Geburtstag des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard zum 200sten Mal. Alle Blätter schrieben, und sie zitierten reichlich…. Weshalb in unserem inoffiziellen Wochen-Ranking großer Worte dem Sprach-Ästheten Kierkegaard die ersten zehn Plätze gebühren.

In der FRANKFURTER RUNDSCHAU übermittelte Otto A. Böhmer so wunderbare Zeilen Kierkegaards zu Nacht und Seele und Selbst und Ewigkeit, dass wir uns grämen, sie wegen ihrer Überlänge hier nicht vortragen zu können. Stattdessen dieses kleinere, immer noch happige Fundstück von Ingeborg Szöllösi in der TAZ:

"Das Paradox ist die Leidenschaft des Gedankens, und ein Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mäßiger Patron. Aber die höchste Potenz jeder Leidenschaft ist immer, ihren eigenen Untergang zu wollen."

Wir möchten dazu kein weiteres Wort mehr sagen, außer eines: Tschüss!