Von Arno Orzessek

Die Feuilletons beschäftigen sich unter anderem mit dem Hauptwerk des verstorbenen russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn "Der Archipel Gulag". Sie feiern den 80. Geburtstag des Kunsthistorikers Werner Hofmann und widmen sich Erinnerungen an Andy Warhol, der in dieser Woche 80 Jahre alt geworden wäre.
"All jenen gewidmet / die nicht genug Leben hatten / dies zu erzählen" - so heißt es in der Zueignung, die Alexander Solschenizyn seinem Hauptwerk, dem gigantischen Material-Ensemble "Der Archipel Gulag", vorangestellt hat.

Nach dem Tod Solschenizyns am vergangenen Sonntag behauptete Frank Schirrmacher in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: "Der 'Solschenizyn-Schock' war das letzte Erdbeben, das durch ein Buch verursacht wurde." Und weiter: Dieses Werk habe "die Tektonik der intellektuellen Welt" verändert.

Nun wissen FAZ-Leser, dass sich Frank Schirrmacher praktisch nur zu Wort meldet, wenn entweder die Tektonik von Wissenschaft, Gesellschaft oder Intellekt ins Beben geraten oder die Abendlanduntergangswahrscheinlichkeit mal wieder immens gestiegen ist - aber dieses Mal mögen Superlative angemessen sein.

Die Veröffentlichungsgeschichte des "Archipel Gulag" ist allemal ein Epos des Kalten Krieges - und die Wirkungsgeschichte ein zweites. In der WELT schrieb Gerd Koenen:

"Dieser auf die Erzählungen und Erinnerungen von 227 Toten und Überlebenden ge¬gründete, durch ein Netzwerk von Ex-Häftlingen und Helfern konspirativ gesammelte, verwahrte und kopierte Text war von einer solch unbestreitbaren Wahrhaftigkeit, dass es schon spezifischer narzisstisch-ideologischer Imprägnierungen bedurfte, um sich dem zu entziehen."

In den 70er Kommunist, hatte WELT-Autor Gerd Koenen damals noch die nötige ideologische Imprägnierung - er brauchte eine Weile, ehe er sich die Lektüre von "Archipel Gulag" zutraute.

Was verzeihlich ist, wenn man berücksichtigt, dass sich viele ganz gedrückt haben. Das jedenfalls behauptete Ulrich M. Schmid in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:

"Die Präsentation des mehrbändigen 'Archipel Gulag' in westlichen Bücherregalen gehörte während des Kalten Kriegs nachgerade zum guten Ton, wirklich gelesen hat den 'Gulag' aber kaum jemand."

Dennoch ließ NZZ-Autor Schmid keinen Zweifel an der Größe des Werks:

"Die monumentale Darstellung des sowjetischen Straf- und Verfolgungssystems […] will nicht nur das Ausmaß des begangenen Unrechts dokumentieren, sondern bedeutet auch eine Rückbesinnung auf die erste Aufgabe von Kunst: den Menschen über seine Situation in der Welt aufzuklären."

Indessen wollen sich auch die Heutigen immer weniger aufklären lassen, bemerkte in der TAGESZEITUNG Christian Semler. Er zitierte die russische Historikerin Irina Scherbakowa, die von einer "Gedächtniskatastrophe" der jungen Russen spricht, hielt aber auch dem Westen den Spiegel vor:

"[Hier] findet der Gulag in der Erinnerungskultur ebenfalls kaum Berücksichtigung. Weshalb Nationen wie die polnische, die estnische und die litauische, die unter sowjetischer Besatzung hunderttausende von in den Gulag Verschleppten zu beklagen hatten, von einem gespaltenen europäischen historischen Gedächtnis, von Nichtachtung ihrer Opfer sprechen."

Ein kritisches Bild zumal vom späten Alexander Solschenizyn entwarf schließlich Sonja Zekri in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Sie bügelte Michail Gorbatschows Behauptung, Solschenizyn habe "für ein wahrhaft freies und demokratisches Land" gekämpft, mit zwei Worten ab - "ein Missverständnis" -, und argumentierte:

"Die Tragödie der Jahrhundertfigur Solschenizyn liegt darin, dass das gegenwartsverliebte, harmoniesüchtige Russland seine Verdienste so gründlich verdrängt wie die Erinnerung an den Terror überhaupt. Sie liegt aber auch darin, dass Solschenizyn die größte historische Leistung seines Volkes - die unblutige Befreiung vom Bolschewismus - nie anerkannt hat."

Aufmerksamen Zeitungslesern könnte aufgefallen sein, dass einige der hier zitierten Artikel gar nicht in den Feuilletons, sondern auf anderen Seiten, zumal den ersten, abgedruckt worden sind - ein weiteres Indiz für Solschenizyns großes Lebenswerk.

Ganz dem Feuilleton überlassen blieben dagegen die Erinnerungen an Andy Warhol, der in dieser Woche 80 Jahre alt geworden wäre. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG druckte kurzerhand eine Seite voller Kunstwerke von und Fotografien mit Andy Warhol. Über die "Flowers" von 1964 schrieb der große alte Mann der FAZ-Kunstkritik, Eduard Beaucamp, die schöne Anekdote:

"Als Warhol 1970 die Präsentation seiner Werke in der Ströher-Sammlung in Darmstadt inspizierte, testeten wir sein Credo vom Künstler als Maschine und Vakuum und von der freien Verfügbarkeit seiner Kunst. Wir baten ihn um Autorisierung [eines] Raubdrucks: Lachend zückte Warhol den Schreibstift und signierte das Blatt."

Eduard Beaucamps kleine Szene in der FAZ hat uns gefallen, weil sie nicht wie auf Knien vor Warhol geschrieben wurde. Bei der Lektüre von Georg Diez’ Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG waren wir uns da nicht so sicher.

"Pop, das ist die eigentliche Botschaft von Warhols philosophischer Großreportage "POPism", ist die Wahrheit; und wem das nicht passt, der soll sich doch bitte eine andere Wirklichkeit suchen."

Ebenfalls 80 Jahre alt geworden, aber bei sehr lebendigem Leibe, ist der Kunsthistoriker Werner Hofmann. Voller Lob und Zuneigung schrieb Hofmanns Kollege Willibald Sauerländer ebenfalls in der SZ:

"Es ist ebenso symptomatisch wie für den Jubilar honorabel, dass das akademische Philistertum diesen geistvollen Außenseiter nie integrieren wollte, sondern ihn ins Museum oder unter die Essayisten abgedrängt hat - zum Glück fürs Museum und für eine stilistisch wie imaginativ brillante Kunstschriftstellerei."

Nun ließe sich - zum dritten Mal SZ - auch noch wiedergeben, was Ijoma Mangold dort über Ingo Schulzes neuen Roman "Adam und Evelyn" geschrieben hat. Weil aber Schulze seit jeher SZ-Feuilletons Liebling ist und weil Mangold die Meinung seines Kollegen Thomas Steinfeld - dass Schulze praktisch der größte Erzähler deutscher Sprache ist - auch nur variiert, hier ein gegenteiliger Standpunkt.

In der FRANKFURTER RUNDSCHAU schrieb Katrin Hillgruber:

"Mollig warmer Osten, eisig freier Westen: Auf Gefühlsebene hat Ingo Schulze mit 'Adam und Evelyn' das absurde Planziel des einstigen DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht mustergültig erfüllt. Schade, dass es die DEFA nicht mehr gibt - dieser Stoff wäre so ganz der ihre gewesen."

Und dann waren da noch Franz Kafka und die Pornos in seinem Bücherschrank. Jörg Sundermeier zeigte sich in der TAZ erstaunt über das "Geschrei" ob des heiligen Kafkas erotischer Menschwerdung:

"Man weiß, dass Kafka Bordellbesucher war, er hatte Liebesbeziehungen zu vielen Frauen, nun könnte es zudem sein, dass er daheim auch masturbiert hat. Wer aber, außer der Papst selbstredend, tut das denn nicht?"

fragte die aufgeklärte TAZ - aber wir meinen, dass eine klare Antwort hier nicht hingehört.