Von Akten erdrückt

Die Roben würdig, die Ausstattung dürftig - die italienische Justiz kämpft.
Die Roben würdig, die Ausstattung dürftig - die italienische Justiz kämpft. © picture alliance / dpa
Von Aureliana Sorrento · 11.06.2012
Prozesse dauern in Italien in der Regel mehrere Jahre. Oft laufen Verjährungsfristen ab, bevor ein Urteil ergeht. Innerhalb von zehn Jahren wurde das Budget für das gesamte Justizwesen halbiert. So fehlt es Italiens Staatsanwälten und Richtern an vielem, auch an Computern. Italiens dritte Gewalt ist arm.
"Ich traue denen nicht. Ich sehe nicht, dass sie das Richtige für die Menschen tun. Was machen denn die Richter? Sie lassen Verbrecher verhaften, und dann setzen sie sie wieder auf freien Fuß.

Ich sehe Dinge, die nicht gerecht sind. Zum Beispiel, dass einer jemanden tötet, und trotzdem wird er nach kurzer Zeit aus der Haft entlassen. Oder dass alle Indizien dafür sprechen, dass einer schuldig ist, aber dann, dank Berufungsverfahren oder guter Anwälte wird er freigesprochen."

Laut Umfragen haben 60 Prozent der Italiener kein oder wenig Vertrauen in die Justiz ihres Landes. Offensichtlich haben die Tiraden des langjährigen Premiers Silvio Berlusconi gegen Richter und Staatsanwälte ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung nicht verfehlt.

"Wir Staatsanwälte und Richter sind bis vor kurzem von einem Teil der italienischen Politik immer wieder heftig attackiert worden. Diese Politiker haben eine regelrechte Kampagne gegen die Justizorgane geführt, vor allem dann, wenn Richter und Staatsanwälte Amtsträgern oder Unternehmern wegen Korruption den Prozess machten. Sicherlich ruft die Unabhängigkeit der Justiz, die von der italienischen Verfassung garantiert und geschützt wird, eine gewisse Intoleranz seitens der Politik hervor. Es ist klar, dass die politische Macht, die sich von der Judikative kontrolliert fühlt, auf die eine oder andere Weise reagiert."

Antonello Ardituro muss es wissen. Der Staatsanwalt, ein hochgewachsener Mann um die Vierzig, gehört der Antimafia-Bezirksdirektion von Neapel an. Einer der vielen Staatsanwälte und Richter, die täglich ihr Leben riskieren im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, die weite Teile des italienischen Südens unter ihrem Joch hält.

Damit kommen sie oft auch Politikern in die Quere. Vor allem in Kampanien, wo die Camorra, die Mafia-Organisation der Region, nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik unter der Fuchtel hat.

"Wir haben viele Ermittlungen und Prozesse geführt. Sie haben bewiesen: der Grund, weshalb die Camorra trotz aller Verhaftungen und Verurteilungen von Bossen und Mitgliedern immer noch die Region Kampanien unter Kontrolle hält, ist ihre enge Verbindung mit der hiesigen politischen Klasse. Gerade wird gegen etliche Kommunalverwalter und Politiker wegen ihrer Nähe zur Camorra ermittelt oder prozessiert."

Es ist ein warmer Frühlingsmorgen, an dem Staatsanwalt Ardituro das Tribunal von Santa Maria die Capua Vetere betritt. Das 30.000-Einwohner-Städchen, zirka 40 Kilometer nördlich von Neapel in der Provinz von Caserta gelegen, kann mit der Schönheit des antiken Capuas, auf dessen Grund es erbaut wurde, nicht aufwarten.

Heute erzählen die zerbröckelnden Fassaden und holprigen Straßen nur von Armut und Verwahrlosung. Berühmt - besser gesagt: berüchtigt - ist Santa Maria di Capua Vetere aus einem einzigen Grund: Es liegt in jenem Gebiet, das vom Clan der Casalesi beherrscht wird, dem mächtigsten aller Clans der Camorra.

"Das ist das Zentrum der Casalesi. Über weite Gebiete der Provinz von Caserta übt der Clan eine eiserne Herrschaft aus. Hier müssen alle Schutzgeld zahlen, selbst die, die einem ganz bescheidenen Geschäft nachgehen. Wichtige Branchen wie die Bauwirtschaft oder die Müllentsorgung liegen komplett in der Hand von Firmen, die den Casalesi gehören oder von ihnen kontrolliert werden. Sie haben auch die Politik fest im Griff: Durch das System des 'voto di scambio', der Tauschstimmen, kontrollieren sie die Verwaltungswahlen und bestimmen, welche Kandidaten gewählt werden."

Zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität haben italienische Antimafia-Staatsanwälte Befugnisse und rechtliche Instrumente zur Verfügung, von denen deutsche Staatsanwälte nur träumen können. Die uneingeschränkte Möglichkeit der Telefonüberwachung etwa, wenn Verdacht auf ein Mafia-Verbrechen besteht. Eine Kronzeugenregelung, die Mafia-Aussteigern, die mit der Justiz zusammenarbeiten, nicht nur Strafminderungen gewährt, sondern auch den Schutz ihres Lebens und dessen ihrer Angehörigen.

Aber das wichtigste Instrument der Justiz gegen die organisierte Kriminalität ist sicherlich die von der italienischen Verfassung garantierte Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten. Sie sind weder dem Justizminister noch einem höher gestellten Justizvertreter unterstellt. Nur dem Obersten Justizrat sind sie Rechenschaft schuldig: einem Organ, dessen Mitglieder zu zwei Dritteln Richter und Staatsanwälte sind und von ihresgleichen gewählt werden.

Auch dürfen Staatsanwälte nicht nach Gutdünken entscheiden, ob sie Ermittlungen einleiten oder nicht. Sobald der Verdacht auf eine Straftat besteht, müssen sie ermitteln. Der Prozess, in dem Antonello Ardituro an diesem Tag die Anklage vertritt, wurde von einem Hinweis zweier Kronzeugen in Gang gebracht.

"Im heutigen Prozess sind ein Boss der Casalesi, Francesco Bidognetti, sein langjähriger Anwalt Michele Santanastaso und ein Gutachter angeklagt. Dieser war vom Gericht in einem Prozess einberufen worden, in dem Bidognettis Sohn des Mordes angeklagt war. Er wird beschuldigt, gegen Geld ein falsches Gutachten erstellt zu haben."

Der Gutachter sei vom Anwalt des Bosses dafür bezahlt worden, so die Kronzeugen, dem Gericht eine falsche Auswertung von abgehörten Telefonaten vorzulegen. Telefonate, in denen mutmaßlich Bidognettis Sohn und ein anderer Camorrista Absprachen über einen Mord trafen, der dann tatsächlich begangen wurde. So geht es in der heutigen Verhandlung um die Frage: Waren die Stimmen in den abgehörten Telefonaten wirklich die der Verdächtigten? Staatsanwalt Ardituro hat drei Stimmenexperten als Zeugen geladen, die ein neues Gutachten erstellt und die Frage positiv beantwortet haben.

Dicht an dicht drängen sich Verteidiger und Angeklagte in den vier Bankreihen vor dem Richterstuhl. Der Boss Bidognetti wird von seiner Zelle im Hochsicherheitsgefängnis zugeschaltet.

Es ist von Datenerhebungs-, Aufnahme- und Auswertungsmethoden die Rede, von Vokalen und Konsonanten, dialektalen Färbungen und Ton-Frequenzen - einen Vormittag und einen Nachmittag lang. Die abgehörten Telefonate sind schließlich ein einschlägiges Beweismittel.

"Die Telefonüberwachung ist zur Bekämpfung von Mafia-Organisationen ein unerlässliches Instrument. Denn es handelt sich um kriminelle Organisationen, die auf der Omertà, dem Schweigegebot, gründen. Es ist sehr schwierig, Zeugen zu finden, die bereit sind, vor Gericht jemanden zu belasten. Aber durch Telefonüberwachung erhalten wir Beweise ohne das Wissen der Verdächtigen."

Die Berlusconi-Regierung versuchte in mehreren Anläufen, ein Gesetz zu verabschieden, das die Möglichkeiten des Einsatzes von Telefonüberwachungen einschränken sollte. Das Vorhaben scheiterte am Votum des Parlaments, ist aber immer noch nicht ganz vom Tisch. Der Ex-Premier konnte allerdings andere Novellen des Strafrechts verabschieden.

"In den letzten Jahren haben wir viele Novellen erlebt. Jene Änderungen, die Delikte wie Bilanzfälschung und Amtsmissbrauch betreffen, haben Ermittlungen über Korruption und Straftaten, die von Amtsträgern begangen werden, schwieriger gemacht. Aufgrund von Neuerungen in der Prozessordnung ist es schwerer geworden, Zeugenaussagen als Beweismittel vor Gericht zu bringen. Eine systematische und rationale Umgestaltung des Justizsystems gab es nicht, sondern nur Eingriffe, die dem Funktionieren der Justiz eher geschadet denn genützt haben."

Dabei bedürfte das schwerfällige System neuer Regelungen, die Ermittlungen und Prozesse beschleunigten. Im Durchschnitt dauert ein Zivilprozess in Italien sieben Jahre und drei Monate, ein Strafprozess vier Jahre und neun Monate. 28.000 Inhaftierte, sprich: zweiundvierzig Prozent aller Gefängnisinsassen, sind Untersuchungshafthäftlinge. Zustände, derentwegen der Europäische Gerichtshof Italien mehrmals verurteilt hat, wie auch wegen der menschenunwürdigen Haftbedingungen in den überfüllten italienischen Gefängnissen. Der Verteidiger des Angeklagten Michele Santanastaso, der bereits anderthalb Jahre in Untersuchungshaft sitzt:

"Das größte Problem des italienischen Justizsystems ist die abartig lange Dauer der Prozesse. Unabhängig davon, ob man schuldig oder unschuldig ist, auf jeden Fall sitzt man drei oder vier Jahre lang in Untersuchungshaft."

Maximal drei Jahre darf Santanastaso im Gefängnis behalten werden, wenn er bis dahin nicht in erster Instanz verurteilt wird. Aber der Prozess gegen ihn, den Camorra- Boss Bidognetti und den Gutachter kann sich noch Jahre hinziehen.

"Man muss keinen Staatsanwalt oder Richter versetzen, wenn man ihn daran hindern will, einen Prozess zu führen. Es reicht, ihm alles zu nehmen: Stuhl, Schreibtisch, Auto, Computer, Personal. Er kann dann nicht mehr arbeiten. Politiker können die Justizvertreter mit keinem Disziplinarverfahren belegen, weil sie es nicht dürfen. Aber sie können ihre Gehälter kürzen. Das nennen sie dann freilich nicht Disziplinarverfahren, sie erklären es durch die Weltwirtschaftskrise. Das passiert gerade bei uns."

Aldo Morgigni, 46 Jahre alt, roter Haarschopf und ein lebhaftes Temperament, bekleidet schon 20 Jahre das Richteramt. Derzeit ist er Untersuchungsrichter am Tribunal von Rom. Er gehört zu einer Task-Force von Richtern, die dort eingesetzt werden, wo gerade Bedarf besteht.

Jedenfalls wirkt das Haupt-Gerichtsgebäude der italienischen Hauptstadt wie ein Wahrzeichen der Not: Ein verrottender Neubaukoloss mit rostenden Balken und bröckelndem Putz. Für Bau- und Wartungsarbeiten gebe es kein Geld, erklärt Morgigni. Aber dies sei nicht das Schlimmste.

"Seit zehn Jahren wird kein Justizbeamter mehr eingestellt. Staatsanwälte und Richter werden nur berufen, wenn andere in Rente gehen. Vor allem aber fehlt es an Verwaltungspersonal. Ein Richter mag tausend Beschlüsse jährlich aussprechen, wenn die Verwaltung es nicht schafft, sie mitzuteilen, einzubinden, archivieren, dann sind sie nutzlos."

In den langen, neonbeleuchteten Fluren des Gerichts ist nachmittags in der Regel nur das Surren von Kopiergeräten zu hören, manchmal noch das Knattern von Wagen, auf denen Aktenbündel transportiert werden. Rechts und links Türen, hinter denen Richter still arbeiten, und eine Endlosreihe von Spinden. Tonnen von Schriftstücken warten dort auf Bearbeitung - im italienischen Justizapparat ist EDV noch Zukunftsmusik.

"Die Umstellung auf EDV hat sich darauf beschränkt, uns ein paar Computer zu geben und zu sagen: Verwaltungspersonal gibt es nicht mehr, schreibt die Beschlüsse also selbst."

Die Mittelkürzungen haben den Justizapparat nicht gerade effizienter gemacht. Laut dem italienischen Justizministerium hatten sich bis zum vergangenen Sommer neun Millionen anhängige Gerichtsverfahren angesammelt, davon fünfeinhalb Millionen Zivilrechtsverfahren und fast dreieinhalb Millionen Strafrechtsverfahren.

"Wir haben für Prozesse wegen einer banalen Straftat wie etwa das Fahren ohne Führerschein die gleiche, zeitaufwendige Prozessordnung wie für Prozesse gegen eine terroristische Organisation wie Al Qaida. Egal, worum es geht - man muss alle Zeugen vorladen. Ein Polizeiprotokoll allein reicht als Beweis nicht aus. Und wenn ein Richter zu einem anderen Tribunal wechselt, in Rente geht oder stirbt, dann muss der Prozess von vorne beginnen. Warum? Das weiß niemand."

Neun Uhr morgens im Zivilgericht von Rom. Durch die Korridore schieben sich Hunderte von Anwälten. Vor dem Raum, im dem Klagen zur Eintreibung von Schulden verhandelt werden, warten einige noch auf die Ankunft einer Richterin; andere haben bereits in den Bänken vor dem Richterstuhl Platz genommen. Von einem Gerichtssaal mag man da gar nicht sprechen, der Raum erinnert eher an ein Klassenzimmer vor dem Erscheinen des Lehrers. Vor der Tür hängt ein Aushang, den Clitie Potenza, Referendarin, gerade durchblättert.

"Da sind all die Verhandlungen, die die Richterin heute abhalten muss."

Zweiundneunzig Verhandlungen. Ein beträchtliches Pensum. Klar, dass jede Verhandlung schnell vonstatten gehen muss.

"Solche Verhandlungen dauern nicht lange. Es sind nur formelle Verhandlungen, da passiert nicht viel. Die Anwälte der Parteien schreiben im Voraus ein Protokoll, der Richter entscheidet oder vertagt die Verhandlung...aber jetzt muss ich meine Akte suchen."

Anwalt Giangiacomo sucht die Akte seines Prozesses. Die Gerichtsdiener haben alle Konvolute auf den Bänken verteilt. Je früher ein Anwalt seine Akte findet und auf den Schreibtisch der Richterin legt, desto früher kann er nach Hause gehen.

"Der Richter sollte die Parteien nach der Liste im Aushang aufrufen, aber um jenen Vorrang zu geben, die früher da waren, ruft er sie in der Regel nach der Ordnung der Akten auf seinem Tisch."

Es dauert nicht lange, bis die Richterin Giangiacomo aufruft. Die Verhandlung selber? Eine Sache von höchstens zwei Minuten.
Aber Jahre werden vergehen, bis der Prozess zu Ende kommt.
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