Vom vermeintlich heilen Landleben

Das Buch ist eine tragische Lovestory, eine Geschichte von Hingabe und Entsagung, Inzest und Verrat, die Biographie einer unangepassten Frau, außerdem eine Familiensaga aus einer Epoche des Niedergangs. Der Autor hat viel hineingetan - und am Ende vielleicht zuviel.
Ondris liebt Jadwiga, er ist besessen von ihr, will sie ehelichen, unbedingt, wenn seine Mutter auch tobt: Wen willst du ...? Die Mutter faucht, als sie die Nachricht hört und den Namen, sie röchelt, schreit dann, daß die Wände beben – "Hast dich einfangen lassen, du Hammel, was?" Nie hat der Sohn sie so gesehen.

Man schreibt das Jahr 1915, wir sind in einem namenlosen Dorf in Ungarn. Ondris ist ein betuchter Bauernsohn, Jadwiga (aus ärmlichem Hause stammend und etliche Jahre älter als er) war das Mündel seines verstorbenen Vaters. Na und? Liebe und Haß haben kein Maß, sagt der Volksmund; im Februar eines uns fernen Kriegsjahres heiraten die zwei. "Dank sei Gott dem Herrn", denkt Ondris an jenem Tag, er denkt es slowakisch, "Djakovatj pána Bohu!", denn die Familie gehört zur slawischen Minderheit der Region.

In der Nacht vor der Trauung beginnt Ondris Tagebuch zu führen. Das Dankgebet steht auf Seite eins. Nur Tage später ist sich der junge Mann seines Glücks nicht mehr so sicher: Zwar gab es ein rauschendes Fest (trogweise Pasteten, Torten auf sechs oder mehr Tischen, Blechmusik und Wein in Strömen ...), doch die bezaubernde Jadwiga verweigert sich. Tut’s in der ersten, in der zweiten Nacht, und dabei soll es bleiben.

Ein seltsames Wesen, diese Jadwiga. Liebt ihren Mann und hat doch ewig einen Liebhaber. Jahre später bekommt sie mit dem Nebenbuhler sogar einen Sohn, Miso. Ein Mysterium umgibt diese Frau. Ondris, in seinem Tagebuch (blaßlila Seiten, liniert, der Leineneinband indigofarben), kann nur rätselraten, was die Gattin so wunderlich werden ließ, und selbst der Leser kommt nicht recht dahinter: Hat das Geheimnis mit Ondris’ Vater zu tun? Gab es was zwischen den beiden, dem Vormund und dem Mündel? Oder, schlimmer noch, war der Vormund in Wirklichkeit Jadwigas Vater?

Ondris beginnt zu trinken, er wird früh sterben, wohl an gebrochenem Herzen. Jadwiga findet sein Tagebuch – und führt es weiter; sie kommentiert hier und da eine Eintragung des Toten, korrigiert, relativiert, fügt reichlich Lebensstoff hinzu. (Draußen, außerhalb des Dorfes, zerbersten in der Zwischenzeit komplette Reiche.) Irgendwann entdeckt Miso das Journal, unter Jadwigas Kissen. Nach Jadwigas Tod wird auch er, der uneheliche Sohn, das Büchlein als Steinbruch, Spiegel oder Beichtstuhl nutzen. Am Ende, nach 400 Romanseiten, liegt eine Art Palimpsest vor uns, ein Konvolut einander ergänzender und widersprechender Textfragmente in drei Handschriften.

Der Autor des ambitionierten Werkes – Pál Závada, Jahrgang 1954 – stammt aus einem Ort im Südosten Ungarns, aus eben so einem Dorf, wie er es im Buch mit Zuneigung beschreibt. Gleich Ondris ist Pál Závada slowakischer Abstammung, und wie sein Held gibt er nicht viel auf hehre nationale Werte. 1986 publizierte der Ökonom und Soziologe eine Monographie über die Sozialgeschichte seines Heimatortes. Auf diese Arbeit stützte er sich bei der Niederschrift des Romans. Mit Begeisterung zitiert der Forscher aus den Quellen (etwa wenn er en détail Jadwigas Aussteuer beschreibt, "4 Höschen aus Barchent, 3 Oberbetten mit je 8 kg Daunen..."), er mischt Fakten und Fiktives.

Dies alles ist "Das Kissen der Jadwiga": eine tragische Lovestory mit drei oder vier Protagonisten (eine Geschichte von Hingabe und Entsagung, Inzest und Verrat), die Biographie einer unangepaßten Frau, die Historie einer zweisprachigen Siedlung von 1915 bis in die späten Achtziger, auch eine Familiensaga aus einer Epoche des Niedergangs. Ondris galt als kultivierter Mann, belesen, beredt in mehreren Sprachen; sein Erbe Miso, der Bastard, begegnet uns in Zeiten des Gulasch-Kommunismus als armseliges Subjekt, ein Spitzel der Staatssicherheit.

Ja, es war ein ehrgeiziges Prosaprojekt, es wurde ein opulentes Werk. Der Autor hat viel hineingetan und am Ende vielleicht zuviel. In Ungarn gilt der Roman, ein Bestseller, als literarische Sensation. Kein Wunder; Závada spricht seinen Lesern aus dem Herzen. Portionsweise, auf gleich mehreren Ebenen, transportiert der Text ungarisches (und slowakisches) Nationalgefühl. Wir spüren die Sorge kleiner Völker um ihre Identität, den bitteren Nachgeschmack all der Schrecken des 20. Jahrhunderts, die Furcht vor weiterem Verhängnis sowie die Sehnsucht nach der scheinbar so sinnlichen und so heilen ländlichen Welt, die es vor den großen Stürmen gegeben haben muß.

Rezensiert von Uwe Stolzmann


Pál Závada: Das Kissen der Jadwiga
Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006, 448 Seiten, 21,95 Euro