Vom Spielzeug zur Spielführerin

Von Jörn Florian Fuchs |
Statt Lulu als männermordendes Flittchen zu zeigen, zeichnet die Aufführung in Lyon ein komplexes Psychogramm der Titelfigur, das auch die Gesellschaft entlarvt. Frei von verschwitzter Altherrenerotik holt Regisseur Peter Stein die Geschichte ins Hier und Jetzt, ohne die Figuren durch allzu konkrete Vergegenwärtigung kleinzumachen.
Ganz am Anfang ist Lulu ein Macho-Männertraum. Sie sieht blendend aus, sagt nichts, tut nichts. Als menschliche Puppe stellen sie der Tierbändiger und sein stark tätowierter Helfer vors Publikum. Erst langsam gewinnt das schwarzhaarige Wesen mit seinem äußerst geschmeidigen Körper an Kontur und entwickelt genau jene lockend-schwatzhafte Persönlichkeit, mit der es diverse Männer sowohl psychisch wie physisch zur Strecke bringt - bis sich schließlich ein grobschlächtiger Frauenmörder der mental wie real verarmten Kreatur erbarmt.

Die Wandlung der Lulu vom Spielzeug zur Spielführerin und letztlich wieder zurück zum (Mord)Objekt gibt Laura Aikin mit einer immensen Bandbreite an Gesten, vokalen Ausdrucksvarianten - und Kleidern. Mal ist sie der lüstern lockende Vamp im Kleinen Schwarzen, mal die unzüchtige Edelhausfrau in heller Abendgarderobe.

Rasch wechseln die Szenen und Szenerien, ein zunächst karges, bald jedoch hübsch aufgemöbeltes Atelier ist zu sehen, in großzügigen Salons wird geliebt und gelitten, in einer heruntergekommenen Mansarde mit Fenstern wie Augen endet das Geschehen, wobei in der Schwebe bleibt, ob sich Lulu zu ihrem Mörder hingezogen fühlt oder ob es sich eher um einen Totschlag im (sexuellen) Affekt handelt.

Peter Steins Inszenierung besticht durch ungemein präzise Personenführung und bietet eine sehr schlüssige Sicht Lulus. Statt Lulu als eindimensionales, männermordendes Flittchen zu zeigen, zeichnet Stein ein komplexes Psychogramm sowohl der Titelfigur, wie einer ganzen Gesellschaft. Dabei entstehen die tragischen, entlarvenden Momente oft unmittelbar aus komischen Situationen heraus. Man gewinnt fast den Eindruck, der ersten Oper von Yasmina Reza beizuwohnen, so locker und leicht wird da ein musiktheatrales Konversationsstück erzählt. Unter der vermeintlichen Oberfläche indes brodeln Abgründe, Verletzungen, Gefährdungen.
Frei von verschwitzter Altherrenerotik zieht Stein die etwas altbackene Geschichte ins Hier und Jetzt, ohne die Figuren durch allzu konkrete Vergegenwärtigung kleinzumachen.

Die insgesamt eher lockere, an den Kernstellen düster intensive Atmosphäre tragen Kazushi Ono und das Opernorchester ebenso mit wie das glänzend besetzte Solistenensemble, aus dem neben Laura Aikin vor allem Stephen West (Dr. Schön) und Franz Mazura (Schigolch) herausragen. Etwas blass bleibt einzig Hedwig Fassbender als Gräfin Geschwitz. Ono dirigiert den Abend schlank und eher glatt, bisweilen fast in einer Art Parlando-Stil, dem erfreulicherweise das sonst übliche grobe Poltern fehlt.

Mit dieser "Lulu" (die auch an der Mailänder Scala sowie bei den Wiener Festwochen zu sehen sein wird) hat Peter Stein neue Maßstäbe im Umgang mit dem oft so derb und zugleich verschmockt inszenierten Stück gesetzt. Nur über eines ließe sich trefflich streiten, ob man nämlich Friedrich Cerhas Ergänzungen der unvollendeten Partitur nicht vielleicht doch etwas mehr eindampfen sollte. Inklusive zweier Pausen dauerte die Lyoner Aufführung deutlich über vier Stunden.