Vom Spiegelfechten im abgedunkelten Museum

Von Jochen Stöckmann · 20.04.2007
Auf ganz eigene Art nimmt sich Videokünstler Douglas Gordon der Filmklassiker an: Für seine erste, 1993 entstandene Installation <em>24 Hour Psycho</em> etwa verringerte er die Geschwindigkeit des Hitchcock-Thrillers "Psycho" auf die Projektion von zwei Bildern pro Sekunde, so dass sich die Länge des Films über 24 Stunden erstreckt.
Der Ankauf von "24 Hour Psycho" für das Kunstmuseum Wolfsburg bildete den Grundstein einer der größten Sammlungen von Videokunst. Nun wird im Kunstmuseum mit elf Videoinstallationen, drei Textinstallationen und circa 100 Fotografien Gordons Werk aus den Jahren 1993 bis 2007 vorgestellt. Die Fotoarbeit Hitchhiker ( Coming or Going), 2007, ist speziell für die Ausstellung in Wolfsburg entstanden. Gezeigt wird auch die 21 Minuten lange Videoarbeit Play Dead; Real Time, für die Gordon die New Yorker Gagosian Gallery leerräumen ließ, um mit einem dressierten Tier die Tötung jenes Elefanten nachzustellen, der 1903 drei Menschen getötet hatte und dessen Tod durch Stromstöße in Coney Island von der Edison Manufacturing Company gefilmt wurde.

"Es ist ja erstmals in der Geschichte der Fall, dass wir das Museum in eine riesige Black Box verwandelt haben – eben für diese Retrospketive von Douglas Gordon."

So spricht der Wolfsburger Kurator Holger Broeker - und man erinnert sich mit Schrecken: Douglas Gordon, das ist doch jener schottische Videokünstler, der John Fords "The Searchers" aufs Prokrustesbett gelegt hat. Endlos gedehnt hätte der Western gut fünf Jahre gedauert. Eine Folter für den Film, nicht für den Zuschauer, denn der konnte vorzeitig gehen – hatte aber dennoch das Prinzip der vorzeigbaren Entschleunigung schnell erkannt.

Auf diesen mittlerweile abgenudelten Aha-Effekt verzichtet die Wolfsburger Retrospektive, lockt statt dessen mit einem verführerisch-witzigen Fingerzeig in die 17 Meter hohe, schwarz ausgemalte Halle: Auf der ersten von einem guten Dutzend geheimnisvoll durch die Dunkelheit schimmernder Leinwände winkt der Mittelfinger einer riesigen Hand den Besucher in das Zwischenreich "between darkness and light". Überdimensionale Projektionsflächen, die Werk- und Folterbänke seiner Wahrheitssuche, hat Douglas Gordon zu freistehenden Skulpturen gruppiert, ein Souvenir an seine erste Begegnung mit großformatig abstrakten Gemälden.

"Als ich ein Gemälde von Barnett Newman sah, hat mich dieses Nachbild beeindruckt. Das hat man noch vor Augen, wenn man weitergeht, also buchstäblich ein "bewegtes Bild". Und ich weiß auch, wie lange es dauert, von einem Ende des Gemäldes zum anderen zu kommen."

Mit Gordons Film-Technik, so die Botschaft dieser buchstäblichen "Rückschau", sieht der Kunstbetrachter im 21. Jahrhundert nun auch hinter die Dinge:

"Leinwände, bei denen man nicht weiß, ob man sich jetzt auf der Vorder- oder der Rückseite befindet. Also, dieser inverse Augenblick, der wird dann noch mal durch die Spiegel zusätzlich verschärft."

Die Spiegel im Leinwandformat eröffnen nicht nur virtuelle Räume hinter den Museumswänden, sie werden auch als Metapher eingesetzt. Nichts mehr ist eindeutig, die barbusige Stripperin aus "Babylon" etwa steht auf einer zweiten Projektionsfläche kopf, legt ihren animalischen Ausdruckstanz nun als abstrakte Bewegungsstudie hin.

In der titelgebenden Installation schließlich blendet Gordon auf einer Leinwand zwei Filme übereinander. Da trifft Jennifer Jones in schwarzweiß als gläubige Katholikin mit dem frommen "Gesang der Bernadette" auf eine vom Satan besessene Linda Blair im Farbstreifen "Der Exorzist". Die Soundtracks überlagern sich, Köpfe schieben sich auf fremde Schultern, Gesten lösen sich von den Körpern, versteckte Symbole dringen nunmehr frei flottierend ins Bewußtsein – alles mehr oder weniger zufällig. Kein Zufall ist der Eindruck des unwirklichen, weltentrückten Bildraumes, den Douglas Gordon mit dieser Vor- und Rückprojektion auf einer einzigen Leinwand erzielt:

"Mit Tony Oursler habe ich schon vor Jahren diskutiert, ob man – wenn man könnte – ein Bild ganz ohne materielle Oberfläche projizieren möchte, eine Art Holgramm. Ich versuche immer wieder, die Leinwand verschwinden zu lassen, aber dabei gehen leider auch die Bilder verloren. Noch kann ich es mit dem Hologramm nicht aufnehmen."

Ausdrucksstarke Schauspieler wären bei diesen Wahrnehmungs-Exerzitien eine glatte Fehlbesetzung. Darauf weist eine Porträtgalerie mit 100 Köpfen aus Hollywood hin, "blind stars" genannt, weil ihnen die Augen ausgeschnitten wurden. Und weil diese Fenster zur Seele fehlen, sind Marilyn Monroe, Peter Lorre oder Humphrey Bogart nicht mehr als mechanische Gliederpuppen. Genau das richtige für Gordons filmanalytisches Kabinett, in dem mit "feature film" auch Hitchcocks "Vertigo" auf die Couch kam. Diesmal allerdings mit der Originalfilmmusik – die James Conlon vor laufender Kamera noch einmal einspielte:

"Ein Model weiß zwar um die Zuschauer, schauspielert aber nicht. Ein Schauspieler dagegen bringt das Publikum dazu, Dinge auf seine Weise zu sehen. Deshalb habe ich James Conlon, den Dirigenten, ausgewählt, ohne je etwas von ihm gehört zu haben, einfach nach einem Foto. Er fragte, ob ich mich mit Musik auskenne. Und ich antwortete: Nein, aber Sie sehen gut aus, genau das richtige Gesicht für meine Art von Film!"

In Großaufnahmen von Gesicht und Händen verkörpert der Dirigent nun jenen Geist des Films – dem selbst ein Douglas Gordon nicht auf die Schliche kommen kann und mag. Auch Arbeiten über den mit mikroskopischer Schärfe gefilmten Tod einer Stubenfliege oder die szenische Rekonstruktion von der Hinrichtung eines Elefanten halten stets diese typische Balance zwischen Banalität und Botschaft, Gut und Böse, "wahrer" Darstellung und realer Spiegelverkehrung.

Und deshalb bleibt auch diese Retrospektive unentschieden und vieldeutig. Zum einen tritt uns ein Klassiker entgegen, der mit weit ausgreifenden Versuchen in alle Richtungen die Wiederholungen nicht scheut, zum anderen wahrt Douglas Gordon seinen Ruf als Großmeister der Videokunst, indem er auch mal Neuland betritt.

Und schließlich sammelt er Sympathiepunkte mit schlichten Wahrheiten und schöner Ironie. In "30 seconds text" steht an der Wand der Bericht eines Arztes zu lesen, der für etwa 30 Sekunden noch Reaktionen am Kopf eines frisch Guillotinierten feststellen konnte. Dann wird es dunkel, nach einer halben Minute flammt das Spotlight wieder auf. Licht an, Licht aus – mehr lauert nicht als Geheimnis between darkness and light, zwischen mystischer Finsternis und hellem Glanz der Aufklärung. Der Rest ist Film und Literatur, die Douglas Gordon in Form von DVDs und Büchern vorzugsweise im Bett zu sich nimmt, denn:

"Das Museum ist ein Rasthaus auf halbem Wege zwischen Akademie und Schlafzimmer. Für mich ist das nicht der Gipfel, auch kein Tempel. Eher im Sinne des Anti-Psychiaters R. D. Laing ein Raum, wo man Leuten erlaubt, sich untereinander zu verhalten, ohne auf Erwartungen der Außenwelt zu achten. Das ist – und war schon immer – eine Rarität, dieser Raum, in dem man in totaler Dunkelheit zwischen absolut Fremden umhergehen kann – und sich dabei relativ sicher fühlt."


Service:

Die Ausstellung "Douglas Gordon ‚Between Darkness and Light’” ist bis zum 12. August 2007 im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen.