Vom seltsamen Leben einer Putzfrau

13.10.2010
13 Romane und ein Theaterstück veröffentlichte Hélène Bessette zwischen 1952 und 1973 in dem renommierten Pariser Verlagshaus Gallimard, doch war die im Oktober 2000 gestorbene Autorin bereits zu Lebzeiten eine Vergessene. In Frankreich setzen sich die Editions Léon Scheer für ihre Wiederentdeckung ein, und der neu gegründete Zürcher Secession Verlag für Literatur unterstützt diesen Schritt mit der deutschen Erstübersetzung von Bessettes letztem Werk "Ida oder das Delirium".
Der Schriftsteller Raymond Queneau hatte Bessettes sprachschöpferisches Talent als Erster erkannt. Wie ihr Biograph Julien Doussinault 2008 festhielt, soll ihn aber auch ihr "rattenähnliches Äußeres" fasziniert haben. Diese aus Neu-Kaledonien nach Frankreich zurückgekehrte protestantische Lehrerin mit ihrem strengen Minderheitenstolz versprach Biss.

Queneau, wie wenig später auch Marguerite Duras, Nathalie Sarraute und Michel Leiris bewunderten Bessettes Formwillen, ihre Ein-Wort-Kaskaden und suggestiven Wiederholungsschlaufen. Dass sie nur eine "Schriftstellerin für Schriftsteller" sei, diesen Vorwurf ließ Hélène Bessette selber nie gelten. Er traf jedoch real zu, denn, frühzeitig aus dem Schulamt entlassen, verarmt und im Ruf stehend, ein wenig verrückt zu sein, zog sie sich sukzessive aus der Welt zurück.

Ein Monolog eröffnet den Roman "Ida oder das Delirium", und schon bald mischt sich unauffällig eine zweite Stimme dazu. Der poetische Duktus ist das Augenfälligste. Satzteile, die die überhebliche Denkweise der Sprechenden veranschaulichen, werden grafisch hervorgehoben. "Ich habe immer zu ihr gesagt" – dieser eine Satz macht unmittelbar deutlich, dass "sie", Ida, nicht hören wollte.

Ida, 67 Jahre alt, Hausangestellte, Schuhgröße 44, stets damit beschäftigt auf ihre Füße zu schauen, hat sich unerwartet, doch vorsätzlich vor einen Lastwagen geworfen. Scharfsinnig und knapp führt Bessette ein Denken vor, dass aus dem so auffälligen Gehweise Idas ableitet, warum die Magd eine untolerierbare "Störung" der eigenen Gesetze bedeutete. Und geschickt verbindet sie die anfänglich entsetzten Äußerungen über den Freitod des Faktotums mit einer wachsenden Empörung über all die kleinen Eigenheiten, die das "traurige Ding" zu einem Individuum machte und ihren letzten Coup zu einer bösartigen Aggression.

Gegen die kaum mehr verhohlene Wut der Dienstherrinnen auf Idas Spleens setzt Bessette immer gezieltere Anklagen: "Ida, schuldig aufgrund von Armut". Ausgebeutet von bornierten, geizigen Parvenüs und deren "Alliierten". "Sie starb den Tod aller Idas dieser Welt. Unbekannt, verloren, in die Fülle der Toten gehaucht." Die klassenkämpferische Verachtung wird nicht kaschiert und speist sich in Bessettes Fall auch aus der Erfahrung, dass sie als ältere Frau den Lebensunterhalt selber durch Putztätigkeiten verdienen musste.

Subtil sinnt sie der augenfälligen Leidenschaft der Hausangestellten für Bücher nach, die das Leben gekrönter Herrscher verklärten. Dieser Hang, mutmaßt die anonym bleibende Stimme des Romans, füllte das Delirium von Ida an. Wahrscheinlich schwang sie sich Nacht für Nacht zur Herrin des Schlosses auf, in dem sie diente, denn Ida, "Opfer, zerrissen von einem verborgenen Drama", hatte stets nur eine Stellung in Schlössern angenommen.

Hélène Bessette löst ihren eigenen Anspruch, einen poetischen Roman zu schreiben, perfekt ein. Dieses streng komponierte Buch, in dem kein Satz überflüssig wirkt, maßt sich nicht an, das seltsame Lebensmotiv der Hausangestellten wirklich zu verstehen. Die behauptete: "Ich bin ein Vogel der Nacht". Bessette schrieb, dieser Satz werde "der einzige sein, den man erinnern wird". Auch die erzählerische Ironie war dieser raffinierten Erzählerin nicht fremd.

Rezensiert von Sigrid Brinkmann

Hélène Bessette, Ida oder das Delirium,
aus dem Französischen von Christian Ruzicska,
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2010,
128 Seiten, 21,95 Euro