Vom seelenlosen Etwas zum Geschöpf Gottes
5. Dezember 1709. Lucia Cremonini gebiert einen Jungen. Sofort nach der Geburt greift die unverheiratete Italienerin zum Messer und tötet das Kind. Sie will ihre Ehre retten, die das Einzige ist, was das 23-jährige Zimmermädchen besitzt. Denn nur Frauen, die keusch und enthaltsam leben, finden einen Ehemann.
Frauen, die hingegen vor der Ehe mit einem Mann intim wurden, egal ob freiwillig oder nicht, droht der soziale Abstieg: Ihnen bleibt nur noch Prostitution oder Bettelei. Lucia Cremoninis Verzweiflungstat wird entdeckt und Ermittlungen werden aufgenommen. Tod durch den Strang lautet das Urteil der Richter.
Lucia Cremoninis Fall ist nur einer unter vielen, er ist nicht ungewöhnlich für die Praxis der damaligen Zeit. Ungewöhnlich aber ist, was der italienische Religionshistoriker Adriano Prosperi aus dieser tragischen Geschichte macht. Anhand der akribischen Aufarbeitung der Gerichtsakten nimmt er seine Leser mit auf eine fesselnde Reise in die Vergangenheit. Ausführlich widmet er sich der Frage, wie sich die Auffassungen von Theologen, Juristen und Ärzten über das Verhältnis von Leib und Seele im Laufe der Zeit verändert haben. Das ist starker Stoff, steckt dahinter doch nichts geringeres, als die Frage, wann das menschliche Leben beginnt.
Je mehr man biologisch von der Entwicklung des Lebens verstand, folgert Prosperi, umso regressiver wurde die gesellschaftliche Haltung gegenüber Abtreibung und Kindstötung. Ungeborenes und neugeborenes Leben, sowie der weibliche Körper gerieten damit erstmals unter strenge staatliche Kontrolle.
Noch bis ins Mittelalter hinein galten Kindstötungen und Abtreibungen als notwendiges Instrument zur Bevölkerungsregulierung. Ein neugeborenes Kind galt als seelenlos und noch nicht vollwertiger Mensch. Erst durch die spirituelle Geburt der Taufe bekam das Kind laut christlicher Lehrmeinung eine Seele und wurde zur Person. Ungetaufte oder vor Geburt getötete Kinder hingegen fielen der ewigen Verdammnis anheim. Das wiederum stellte Ärzte und vor allem Hebammen vor eine schwierige Entscheidung: Sollten sie in einer kritischen Geburtssituation die Mutter oder das Kind retten, um letzteres wenigsten taufen zu können? Nicht selten entschied man sich zugunsten des Kindes, der zu rettenden Seele, und opferte das Leben der Mutter. Gleichzeitig entwickelten Ärzte und Hebammen Instrumente, mit denen eine Taufe noch unter der Geburt möglich war. Sogar dann noch wenn die Kinder in der Gebärmutter waren. So wurde etwa der Kaiserschnitt zur beliebten Technik, um das ungeborene Kind doch noch rechtzeitig zu taufen.
Anfang des 17. Jahrhunderts verschieben sich die Paradigmen: Der französische Arzt Jean Fernel gibt zu bedenken, ob nicht schon 40 Tage, später sogar 3 Tage nach Befruchtung, die Gabe der Seele erfolge. Wie sonst sei zu erklären, dass sich das Kind im Mutterleib selbstständig bewege? Damit widerspricht der Mediziner der Meinung, dass die Seele erst durch die Taufe in den Körper gelangt. Fernels Ansicht setzte sich zunehmend durch. Abtreibung und Kindstötung wurden damit zu unverzeihlichen Verbrechen, die von den Behörden streng verfolgt wurde. So wurde in einigen europäischen Ländern befohlen, Frauen, die unverheiratet waren, regelmäßig auf Anzeichen einer Schwangerschaft zu untersuchen. In Frankreich erließ man ein Edikt, das befahl, schwangere, unverheiratete Frauen sofort bei der Obrigkeit anzuzeigen. Und in Italien waren Gutsherren verpflichtet, Schwangere dem Leiter eines Findelhauses zu melden. Damit wollte man zumindest die Kindstötung verhindern.
Den schwangeren Frauen selbst ließ man allerdings keinen Schutz angedeihen. Sie waren die Verstoßenen der Gesellschaft. Ihre Ehre war dahin. Das Leben nach einer Schwangerschaft war ein verlorenes. Nicht so das der Väter. Sie wurden im Zusammenhang mit vorehelichen Schwangerschaften nicht belangt. So auch im Falle Lucias. Der Vater ihres Sohnes, ein Pastor, trat während des gesamten Prozesses nicht in Erscheinung. Sogar sein Name blieb unbekannt. Das war kein Einzelfall, sondern gängige Praxis: Mit dem Tod bestraft wurde nur die Mutter, die ihr Kind getötet hatte. Adriano Prosperi hat mit seinem hervorragenden Buch dieser Frau wieder ein Gesicht gegeben.
Rezensiert von Kim Kindermann
Adriano Prosperi: Die Gabe der Seele. Geschichte eines Kindsmordes
Aus dem Italienischen von Joachim Schulte
Suhrkamp, Frankfurt/M.
517 Seiten, 32,80 Euro
Lucia Cremoninis Fall ist nur einer unter vielen, er ist nicht ungewöhnlich für die Praxis der damaligen Zeit. Ungewöhnlich aber ist, was der italienische Religionshistoriker Adriano Prosperi aus dieser tragischen Geschichte macht. Anhand der akribischen Aufarbeitung der Gerichtsakten nimmt er seine Leser mit auf eine fesselnde Reise in die Vergangenheit. Ausführlich widmet er sich der Frage, wie sich die Auffassungen von Theologen, Juristen und Ärzten über das Verhältnis von Leib und Seele im Laufe der Zeit verändert haben. Das ist starker Stoff, steckt dahinter doch nichts geringeres, als die Frage, wann das menschliche Leben beginnt.
Je mehr man biologisch von der Entwicklung des Lebens verstand, folgert Prosperi, umso regressiver wurde die gesellschaftliche Haltung gegenüber Abtreibung und Kindstötung. Ungeborenes und neugeborenes Leben, sowie der weibliche Körper gerieten damit erstmals unter strenge staatliche Kontrolle.
Noch bis ins Mittelalter hinein galten Kindstötungen und Abtreibungen als notwendiges Instrument zur Bevölkerungsregulierung. Ein neugeborenes Kind galt als seelenlos und noch nicht vollwertiger Mensch. Erst durch die spirituelle Geburt der Taufe bekam das Kind laut christlicher Lehrmeinung eine Seele und wurde zur Person. Ungetaufte oder vor Geburt getötete Kinder hingegen fielen der ewigen Verdammnis anheim. Das wiederum stellte Ärzte und vor allem Hebammen vor eine schwierige Entscheidung: Sollten sie in einer kritischen Geburtssituation die Mutter oder das Kind retten, um letzteres wenigsten taufen zu können? Nicht selten entschied man sich zugunsten des Kindes, der zu rettenden Seele, und opferte das Leben der Mutter. Gleichzeitig entwickelten Ärzte und Hebammen Instrumente, mit denen eine Taufe noch unter der Geburt möglich war. Sogar dann noch wenn die Kinder in der Gebärmutter waren. So wurde etwa der Kaiserschnitt zur beliebten Technik, um das ungeborene Kind doch noch rechtzeitig zu taufen.
Anfang des 17. Jahrhunderts verschieben sich die Paradigmen: Der französische Arzt Jean Fernel gibt zu bedenken, ob nicht schon 40 Tage, später sogar 3 Tage nach Befruchtung, die Gabe der Seele erfolge. Wie sonst sei zu erklären, dass sich das Kind im Mutterleib selbstständig bewege? Damit widerspricht der Mediziner der Meinung, dass die Seele erst durch die Taufe in den Körper gelangt. Fernels Ansicht setzte sich zunehmend durch. Abtreibung und Kindstötung wurden damit zu unverzeihlichen Verbrechen, die von den Behörden streng verfolgt wurde. So wurde in einigen europäischen Ländern befohlen, Frauen, die unverheiratet waren, regelmäßig auf Anzeichen einer Schwangerschaft zu untersuchen. In Frankreich erließ man ein Edikt, das befahl, schwangere, unverheiratete Frauen sofort bei der Obrigkeit anzuzeigen. Und in Italien waren Gutsherren verpflichtet, Schwangere dem Leiter eines Findelhauses zu melden. Damit wollte man zumindest die Kindstötung verhindern.
Den schwangeren Frauen selbst ließ man allerdings keinen Schutz angedeihen. Sie waren die Verstoßenen der Gesellschaft. Ihre Ehre war dahin. Das Leben nach einer Schwangerschaft war ein verlorenes. Nicht so das der Väter. Sie wurden im Zusammenhang mit vorehelichen Schwangerschaften nicht belangt. So auch im Falle Lucias. Der Vater ihres Sohnes, ein Pastor, trat während des gesamten Prozesses nicht in Erscheinung. Sogar sein Name blieb unbekannt. Das war kein Einzelfall, sondern gängige Praxis: Mit dem Tod bestraft wurde nur die Mutter, die ihr Kind getötet hatte. Adriano Prosperi hat mit seinem hervorragenden Buch dieser Frau wieder ein Gesicht gegeben.
Rezensiert von Kim Kindermann
Adriano Prosperi: Die Gabe der Seele. Geschichte eines Kindsmordes
Aus dem Italienischen von Joachim Schulte
Suhrkamp, Frankfurt/M.
517 Seiten, 32,80 Euro