Vom Schmelztiegel zum Schubladenschrank

Von Jan Tussing |
Lange war das Bild des Schmelztiegels der Gründungsmythos der Vereinigten Staaten. Inzwischen wäre der streng unterteilte Schubladenschrank wohl die passende Metapher: Einwanderer sind längst nicht mehr so einfach bereit, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Besonders deutlich wird das an der wachsenden Gruppe der Latinos.
So hört sich Mariachi Musik an. Diese Musik kommt ursprünglich aus dem Westen Mexikos und wird von einer Gruppe von Männern in bunten Folklorekostümen gespielt.

Wir stehen aber nicht im Westen Mexikos, sondern im Osten von Los Angeles. In Boyle Heights, auf dem Mariachi Plaza. Ein großer Pavillon befindet sich mitten auf dem großen Platz, der umgeben ist von Restaurants, Cafés und einem kleinen Buchladen.

"Mariachi Plaza ist seit den letzten 50 Jahren dafür bekannt, dass man hier fahrende Musiker anheuern kann, sagt Abel Salas, ein Lokalreporter und Galerist in Boyle Heights. Mariachis warten hier auf Arbeit.

Wenn du deiner Mutter ein Ständchen singen lassen willst, oder deiner Tochter zu ihrem 15. Geburtstag, also der typischen Quincanera, eine Musikband organisieren willst, dann kommst du hier an den Platz und fragst die Jungs, wie viel Geld sie für eine vier,- oder fünfköpfige Gruppe verlangen. Die steigen dann in dein Auto und fahren mit dir nach Hause oder in den Ballsaal und spielen für dich."

Die Latinos stellen über die Hälfte der Einwohner von Los Angeles. Viele Stadtviertel sind aber auch zu hundert Prozent Latino. Boyle Heights zum Beispiel, einer der ältesten Stadtteile von Los Angeles, liegt fast schon in Fußnähe von Downtown LA.

"Boyle Heights wurde im frühen 20. Jahrhundert vor allem von jüdischen Immigranten aus New York und Europa begründet. Es kamen auch Armenier und Russen, und natürlich lebte hier die mexikanische Bevölkerung Kaliforniens, die sich schon früh der US-amerikanischen Kultur assimiliert hat.

Denn Kalifornien gehörte ja bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu Mexiko. Aber es wohnten hier auch Afro-Amerikaner, und Amerikaner japanischen Ursprungs."

Boyle Heights bildet die jeweiligen Einwanderungswellen der USA ab. Aber in den 50er-Jahren kam die Wende: Stadtautobahnen werden gebaut und die zehnspurigen Highways trennen Boyle Heights vom Rest der Stadt ab. Wer kann zieht weg. In reichere Gebiete wie Silverlake. Die Gegend verarmte. Heute wird in Boyle Heights sehr viel spanisch gesprochen. In den 50er und 60er-Jahren entstand hier die Chicano Bewegung, sagt Abel Salas.

"Chicano ist ein spezifischer Begriff aus den USA. Chicanos sind Amerikaner mexikanischen Ursprungs, die sich eher mit ihrem aztekischen Erbe identifizieren, oder ihrem Erbe als Ureinwohner Amerikas, aber auch ihrem spanischen und europäischen Erbe.
Im Mittelpunkt stehen aber die indianischen Kulturen Mexikos. Viele Menschen sind in der Zeit damals nach Mexiko gereist, um ihre Vorfahren und ihre Wurzeln wieder zu entdecken, und das hat zu einer kulturellen Befruchtung geführt."

Chicano ist vor allem ein politischer Begriff, der immer wieder im Kampf für Gleichberechtigung und Bürgerrechte fällt. Amerikaner mexikanischen Ursprungs wurden seit der Besiedlung Kaliforniens als Menschen zweiter Klasse behandelt, so Abel Salas. Dabei gehörte Kalifornien bis 1846 zu Mexiko und wurde erst im mexikanisch-amerikanischen Krieg von den USA annektiert.

"Chicanos wurden diskriminiert. Ihre Schulen, die sich mehrheitlich im Osten von Los Angeles befanden, waren unterdurchschnittlich, in den 70er-Jahren boykottierten die Schüler und verließen den Unterricht.

Sie forderten bessere Lehrer, sie wollten Kurse, die sie auf die Uni vorbereiten, sie wollten nicht mehr so behandelt werden, wie die Mechaniker und Gärtner von morgen. Das war der Anfang der Chicano-Bewegung, die zugleich auch eine sehr künstlerische Komponente hatte. Und heute als Chicano-Kunstbewegung bezeichnet wird."

Mit den Chicanos beginnt die Zeit der Aktivisten. Es ist das Erwachen einer neuen Identität. Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren sie Opfer einer grausamen, rassistischen Politik. Noch in den 50er-Jahren deportierte die US-Regierung zwei Millionen Menschen mexikanischen Ursprungs nach Mexiko, sagt Judith Baca.

"Das ist mehrheitlich unbekannt. Es waren allein 70.000 Menschen in Los Angeles. Sie wurden am Kornfeld in Busse verfrachtet, das Kornfeld befindet sich heute in Downtown LA. Die Busse fuhren sie zum Bahnhof,"

Judih Baca ist Künstlerin. Die Amerikanerin steht vor einer riesigen Wandmalerei, die sie in den 70er-Jahren gemalt hat.

"Ich schrieb unter die Malerei: 250.000 Mexikaner wurden in Kalifornien deportiert. Eines Morgens stand ich mit dem Pinsel in der Hand vor dem Gemälde, als eine Gruppe älterer Frauen an den Zaun kamen und nach mir fragten.

Judy Baca, wo ist Judy Baca, und mir war nicht ganz wohl. Die Frauen sagten, wir sind gekommen, um dir zu sagen, dass du das ändern musst, denn wir wurden alle deportiert. Aber wir sind Amerikaner, wir wurden hier geboren."

Die Wandmalerei ist Teil der großen Mauer von LA. Eine politisches Projekt, um auf die soziale Ungerechtigkeit in Los Angeles hinzuweisen. Judy Baca ist die Stimme und Gründerin der Mauer und steht mit Mikrofon in einem offenen von Besuchern voll besetzten Bus. Ihre dichten schwarzen Haare, ihr mit Farbe bekleckster Overall, und ihr heller Strohhut weisen sie ganz klar als Künstlerin aus.

"Los Angeles hält den Rekord der längsten Wandmalerei der Welt. Leute in Berlin haben versucht diesen Rekord zu brechen, mit alten Bunkern in der Stadt, aber wir lachen darüber nur, denn wer bemalt schon eine halbe Meile Mauer, und ist bei gesundem Menschenverstand."

Seit den 70er-Jahren, auf dem Höhepunkt der Chicano Bewegung also, malt Judy Baca an der Großen Mauer von LA.

"Die Mauer ist 872 Meter lang und zeigt Jahrzehnt um Jahrzehnt die Geschichte Kaliforniens und Amerikas im Allgemeinen. Aber es konzentriert sich auf die Geschichten, die nicht in den Büchern stehen, die herausgelassen wurden, die Geschichte, der Afro-Amerikaner, die Geschichte der Ureinwohner Amerikas, die Geschichte der Frau, der Kampf für soziale Gerechtigkeit, es ist ein Blick auf die Momente in der Geschichte, die kritisch waren, wie wir uns gegenseitig sehen."

Die große Mauer von LA befindet sich im LA River, sie ist ein Teilstück des 88 Kilometer langen, zubetonierten Flusses, der heute mal wieder kein Wasser führt. Sie ist zu einem Symbol für Völkerverständigung geworden. Die vereinigten Völker von Los Angeles. Denn die Geschichte der Stadt ist traurig und brutal. Es ist die Geschichte von Rassentrennung und Völkermord, von Massakern an chinesischen und Deportationen von mexikanischen Einwanderern.

Judith Baca dokumentiert die Diskriminierung gegenüber Latinos, die Ausrottung der Ureinwohner und den Kampf für Gleichberechtigung und Menschenrechte. Die Besiedlung Nordamerikas verlief entlang ethnischer Linien, und die Folgen sind bis heute zu spüren, besonders in LA.

"Die Idee vom Schmelztiegel war immer ein Mythos. Es war die Idee eines perfekten Amerikas. Wie wir ankommen und unsere individuelle Identität abgeben. Und das wir etwas werden, eine Art Zwischending, eine undefinierte Masse.

In Wahrheit werden in unseren Schulen 129 Sprachen gesprochen. Wir sind eine Stadt von Nationen, und nicht weil wir es uns ausgesucht hätten, separat zu leben, sondern vielmehr weil wir eine lange Geschichte der Rassentrennung erlebt haben, einhergehend mit Gesetzen, die bestimmten, wo Menschen leben durften."

Um vor Rassismus und Gewalt sicher zu sein, ziehen sich die jeweiligen Volksgruppen der Stadt in ihre einzelnen Stadtteile zurück. In Los Angeles gibt es viele Viertel, in der nur eine einzige Volksgruppe lebt. Es gibt Chinatown und little Tokio im Stadtzentrum von LA, es gibt Koreatown und little Armenia in Midtown, es gibt Stadtteile, die zu 100 Prozent jüdisch, persisch oder armenisch sind.

Es gibt riesige Gebiete wie Watts, Leimert, Carson oder Ingelwood wo ausschließlich Schwarze leben und sich andersfarbige nicht hineinwagen. Und dann gibt es natürlich Gegenden die gänzlich weiß sind. Santa Monica und Malibu, Beverly Hills und im Grunde der gesamte Westen der Stadt.

"Wir sind ein gemischtes Volk, aber wir sind nicht einheitlich. Wir sind ein Einwanderungsland und eine Einwanderungsstadt."

Und dann gibt es natürlich die Latinos. Sie stellen knapp die Hälfte aller Einwohner von LA. Allein 30 Prozent der Einwohner von Los Angeles sind mexikanischen Ursprungs. Aber sie sind eine Mehrheit ohne Stimme, ohne Einfluss und ohne Anerkennung.

Sie haben ihre eigenen Fernsehkanäle und Radiosender, ihre eigenen Zeitungen und Supermärkte, denn englischsprachige Amerikaner behandeln sie immer noch wie ihre Gärtner und Kindermädchen. Auch Rocio Ponce aus Boyle Heights ist mexikanischen Ursprungs.

"Die 37-jährige Frau ist Flamenco Tänzerin und singt in der Rockgruppe laBestia. Mit zehn Jahren sah sie Sevillana Tänze zum ersten Mal und sagte ihrem Vater, ich will nicht mehr in die blöden Ballettstunden gehen, ich will Flamenco tanzen."

Heute tanzt Rocio Ponce auf Bühnen in aller Welt. Mit ihrer Musik und ihrem Tanz ist sie in Boyle Heights inzwischen ein kleiner Star. Und sie hat ihren Geburtsort nicht vergessen. Zweimal im Monat unterrichtet sie hier Flamenco. Sie bringt Jugendlichen das Tanzen bei.

"Manche sind erst drei Jahre alt, und manche sind so alt wie sie."

Mit Flamenco will Rocio Jugendliche von der Straße holen, denn die Straßen von Boyle Heights sind gefährlich. Der Stadtteil ist einer der ärmsten von Los Angeles, Gangs und Banden treiben nachts ihr Unwesen. Viele der alten Häuser sind in schlechtem Zustand, denn Boyle Heights ist bis heute das Auffangbecken für Einwanderer aus aller Welt.

"Ich habe als Teenager mit Flamenco angefangen. Ich hatte Glück, Menschen zu treffen, die mich auf den richtigen Weg gebracht haben. Mit Jugendlichen zu arbeiten – das hat mir das Leben gerettet."

Rocios Eltern sind beide in Mexiko geboren. Sie ist Amerikanerin der ersten Generation.

"Wenn du aus Mexico kommst nennen sie dich Pocha, das ist sehr unfreundlich, oder es ist als Witz gemeint, weil du ein sehr holpriges spanisch sprichst. Viele nennen sich aber auch einfach in Amerika geborene Mexikaner.

Und dann hast du die älteren Leute, die aus der Chicano-Bewegung kommen. Das respektiere ich, aber ich bezeichne mich als mexikanisch in den USA geboren. Chicano ist für mich zu politisch."

Die Zeiten als Latino und Hispanics Gewalt und Diskriminierungen noch über sich ergehen ließen, sind zwar vorbei, aber sie werden in Kalifornien trotzdem nicht angemessen repräsentiert.

"Es werden mehr braune Babies geboren als Weiße. Punkt. Nach 2020 ist dies hier ein radikal anderes Land als jetzt. Punkt, das ist die Realität."

Rosario Dawson ist ein Hollywoodstar, zuletzt zu sehen in dem Film Unstoppable – außer Kontrolle an der Seite von Denzel Washington. Sie ist eine stolze Latina und die Stimme von Voto Latino. Sie setzt sich dafür ein, dass junge Hispanics wählen gehen.

"Unsere Mission ist, junge Latinos dazu zu bringen, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen und Wählen zu gehen. Wir registrieren sie als Wähler, haben eine Kampagne für die Volkszählung, wir versuchen sie aufzubauen und ihnen Führungseigenschaften zu vermitteln. Wir haben Freiwillige, die mit ihnen arbeiten."

50 Millionen Latinos leben insgesamt in den USA. Rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber das Durchschnittseinkommen eines Latino-Haushaltes liegt mit Abstand weit unter dem eines Anglo-Amerikaners. Auch bei der Bekleidung öffentlicher Ämter sind Latinos unterrepräsentiert. Gerademal vier Prozent aller öffentlichen Ämter werden an Latinos vergeben. Aber Latinos mobilisieren sich.

Und dabei helfen Hollywoodstars wie Jessica Alba, Eva Longoria oder Antonio Banderas. Und auch Rosario Dawson. Seit über fünf Jahren acht sich die Schauspielerin für die Demokraten stark. Und das beginnt bereits an den Unis. Zum Beispiel auf dem Campus der UCLA.

"Du siehst ihnen im Gesicht die Begeisterung an. Wir sind Teil der Chicano-Bewegung, die Jugendlichen laufen alle mit den T-Shirts herum, ich bin illegal.

Wir haben eine Wähle-mich Kampagne und demonstrieren morgen. Es ist erstaunlich, deswegen haben wir Voto Latino ins Leben gerufen, wir sprechen mit den Leuten und führen die Welle, aber die Arbeit machen sie selbst."

Kalifornien, und im Grunde die gesamten USA, stehen vor einem tiefgreifenden Umbruch. Latinos sind die Macht von Morgen. Und die etablierte Elite der hauptsächlich weißen Amerikaner sieht der Zukunft daher mit Sorge entgegen.

Wo ist der Präsident, der alle Einwohner des Landes gerecht vereint? Und auch die Belange der Latinos vertritt. Wann werden aus den vielen Völkern der USA wirklich eins. E pluribus unum – so wie es auf jeder Dollarnote steht.
Mehr zum Thema