Vom Schatten des Meisters befreit

Von Siegfried Forster · 14.04.2008
In Paris ist derzeit eine umfangreiche Retrospektive der Bildhauerin Camille Claudel zu sehen. Die Ausstellung will weniger ungesehene Werke zeigen, als eine neue Sicht auf das Gesamtwerk der eigenwilligen Künstlerin ermöglichen. Bislang wurde Claudel oft nur als Schülerin und Liebhaberin von Auguste Rodin wahrgenommen.
Bruder Paul als Kind, eine entfesselte Greisin, ein ineinander verschlungenes Paar, Variationen um Frauenfrisuren, sensuelle Gesten, sinnliche Glieder, Szenen aus Gips, Terrakotta, Marmor, Bronze und Onyx. Das Erdgeschoss des Rodin-Museums ist ganz allein Camille Claudel gewidmet. 90 Arbeiten, ein wesentlicher Teil ihres Gesamtwerks. Keine Revanche, sondern eine notwendige Richtigstellung, bemerkt Véronique Matiussi, eine der beiden Kuratorinnen:

"Das Problem war, dass bis heute Camille Claudel in ihrem Werk immer zuerst als Frau und Liebhaberin und dann erst als Künstlerin gesehen wird. Vor allem, was ihre Beziehung zu Rodin anbetrifft, ihr Liebesleben, ihre Verrücktheit und ihr bekanntermaßen tragisches Schicksal, denn sie ist lange Zeit in einer Anstalt für Geisteskranke interniert worden und in Vergessenheit geraten. Für uns war es wichtig, uns neu mit ihren Werken zu konfrontieren. Den Verlauf der Karriere von Camille Claudel mit Hilfe ihres Vokabulars darzustellen, mit ihrer Recherche als Bildhauerin - ohne immer gleich ihre Ausbildung bei Rodin im Blick zu haben und die Tragödie ihrer persönlichen Geschichte."

Eine Camille-Claudel-Retrospektive ohne Auguste Rodin? Natürlich nicht, aber ihr Meister und Liebhaber ist nicht mehr als lastender Schatten anwesend, sondern als zehnjährige Etappe ihrer künstlerischen Karriere - eine entscheidende, aber nicht alles erklärende Etappe, denn ihre Recherchen als Bildhauerin gingen weit über Rodin hinaus.

In "La Valse" neigt sich ihr Walzer-Paar derart stark in den Raum, als ob es der Schwerkraft trotzen wollte, in "Die Schwätzerinnen" schärfte sie ihre intuitive Beobachtungsgabe in einem Zugabteil. Die daraus resultierenden zeitlosen Frauenporträts empfand sie Fahndungsplakaten nach und vertraute bei der Kinnpartie eher auf Dégas’ Tänzerin als auf Rodin - Ausdruck ihrer Emanzipation.
""Oder all diese Szenen aus dem privaten Alltagsleben, die sie in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts schuf, all diese Szenen beinhalten, was Camille Claudel an Neuem in die Kunst mit einbrachte. In diesen Werken gelang es ihr, sich von Rodin zu lösen und ihren eigenen Weg zu gehen. Sie zeigte in diesen Werken großen Mut und eine große Originalität. Gleichzeitig glänzt sie mit technischen Meisterleistungen. Sie bearbeitet beispielsweise so schwierige Materien wie den Onyx-Marmor und ihr gelingt es, damit spielerische Lichteffekte mit der Gesteinsfarbe zu erzielen, um beispielsweise den Meeresschaum darzustellen."

Für die gewünschten Farb- und Lichteffekte malträtierte und polierte Camille ihre Onyx-Skulpturen sogar mit Schafsknochen, erzählte ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Paul einmal. Paul Claudel, geachteter Schriftsteller und Diplomat, hatte selbst viele der bis heute sich hartnäckig haltenden Fehl-Interpretationen in die Welt gesetzt. Anlässlich der ersten Camille-Claudel-Retrospektive 1952, also neun Jahre nach dem Tod seiner Schwester im Irrenhaus, schrieb Paul eine Eloge über seine Schwester. Darin interpretierte er praktisch sämtliche ihrer Werke durch die Brille des persönlichen Schicksals.

Bei Camilles Meisterwerk "L’Age mûre" beispielsweise stellte Paul weder die verblüffende Technik, noch den umwerfenden Ausdruck in den Mittelpunkt, sondern die Leidensgeschichte: Die Geschichte eines Mannes, der von einer älteren Frau (Rodins Lebensgefährtin Rose Beuret) eingefangen, seine junge - um Liebe bettelnde - Liebhaberin im Stich gelassen hat. Eine These, die jahrzehntelange auch von Rodin-Experten wiedergekäut worden ist und nun durch die Recherchen von Véronique Mattiussi widerlegt wurde:

"Ich habe lange in den Archiven geforscht und versucht, alle Fragmente genau zu untersuchen. Eines ist sicher, Rodin hat sie niemals im Stich gelassen. Ich denke, dieses Verhältnis und diese Geschichte haben ihn vollkommen überfordert, durch die Verrücktheit, die Camille Claudel damals zu entwickeln begann. Aber zu keinem Zeitpunkt hat er sie im Stich gelassen. Er kam ihr sehr lange zu Hilfe, versuchte ihr Geld zu geben, schrieb an Mäzene, damit sie Camille Claudel Werke abkauften, er bat Kunstkritiker Artikel über sie zu schreiben. Er versuchte wirklich, ihr mit Hilfe seiner Kontakte zu helfen."

Bei Rodin hatte Camille Claudel ihren Beobachtungssinn geschärft, die Bedeutung des Profils gelernt und verstanden, dass auch Hässlichkeit schön sein kann, wenn sie sich als wahrhaftig erweist.

Tatsache bleibt, dass Rodin nicht zu Camille Claudel stand, als sie von ihm schwanger war und abtreiben musste. Deshalb ist bei ihren Werken oftmals genauso stark ihre Leidensgeschichte präsent wie ihre Schaffenskraft. Ihre monumentale Skulptur-Serie rund um den indischen Mythos "Kasountala" erzählt etwa von einer Heldin, die nach sehr langer Abwesenheit ihren Geliebten wiederfindet. Dieser ist so fürchterlich verhext worden, dass er sich selbst an seine Liebe für sie nicht mehr erinnern konnte. Dass Camille Claudel sich an solchen Themen die Zähne ausbiss und den Verstand verlor, darf aber nicht fälschlicherweise als Ausdruck des Irrsinns gedeutet werden, resümiert Kuratorin Aline Magnien ihre neuen Erkenntnisse aus der Ausstellung:

"Jetzt kann man vielleicht diesen Hang zur Neubearbeitung, Wiederholungen, Variation anders interpretieren. Ein Hang, der sehr charakteristisch für ihre Arbeit ist und eine Art Roten Faden in ihrem Werk darstellt. Oft hat man diesen Hang als Zeichen ihrer Geisteskrankheit gedeutet, als Zeichen ihres Leidens, als Ausdruck einer Unfähigkeit zu kreieren. Ich glaube, das ist erheblich tiefer und steht in Zusammenhang mit ihrer Konzeption eines Kunstwerks und der künstlerischen Arbeit. Das ist eine Sache, die wir dank der Vorbereitung und Inszenierung dieser Ausstellung entdecken konnten."

Service:
Die Retrospektive mit Werken von Camille Claudel ist bis zum 20. Juli 2008 im Musée Rodin in Paris zu sehen.