Vom Ruheraum zum Operationsfeld?
In Baden-Württemberg gibt es etwa 600.000 Muslime. Ein bis zwei Prozent von ihnen werden islamistischen Organisationen zugerechnet, die in Stuttgart, Mannheim, Ulm, Heilbronn, Freiburg und Konstanz aktiv sind. Offenbar gehört auch die Vorbereitung terroristischer Anschläge dazu.
Letztere wiesen verschiedentlich in den Raum Ulm/Neu-Ulm. Verschiedene Indizien legen nahe, dass sich Baden-Württemberg vom Ruheraum zum Operationsfeld islamistischer Gewalttäter wandelt. Welche Indizien sprechen dafür? Wie reagiert der Verfassungsschutz des Landes auf diese Gefahr?
"Nach der Religion wird der Bürger ja gemeinhin nicht befragt. Aber es gibt entsprechende Schätzungen aufgrund von Zahlen, Eigenangaben und so weiter. Wenn man das hochrechnet, können wir mit ungefähr einer halben Million Muslimen in Baden-Württemberg rechnen, ohne aber sagen zu können, wie viele Schiiten, wie viele Sunniten und unterschiedliche Untergruppen damit gemeint sind,"
sagt Herbert Landolin Müller. Der promovierte Islamwissenschaftler und Historiker leitet die Abteilung Islamismus beim baden-württembergischen Verfassungsschutz, eine Expertenmannschaft, die sich weit über die Landesgrenzen in Sachen Islam und Islamismus einen Namen gemacht hat. Und so kann denn auch Müller trotz der vagen Zahlenangabe die muslimische Vielfalt im Südwesten, zumindest was deren Organisationsgrad anlangt, etwas auffächern.
"Gemeinhin ist davon auszugehen, dass nur ein geringer Prozentsatz organisiert ist. Wir haben also unterschiedlich große Organisationen. Die nehmen natürlich alle für ihre jeweiligen Nationalitäten die Hegemonie für sich in Anspruch. Es gibt eine türkisch-staatliche Organisation Ditib. Es gibt die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, ein Beobachtungsobjekt. Es gab bis zum Verbot, organisatorisch präsent, den Kalifatsstaat. Es gibt die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V., also eher eine arabisch orientierte Organisation. Allerdings sind die Strukturen dort umgeändert worden, und man hat es mit mehr oder weniger juristisch vereinzelnden Organisationen zu tun, wo es also schwer ist, die strukturellen Zusammenhänge zu sehen und nachzuweisen."
Die von Müller genannten Gruppen vertreten allesamt die sunnitische Hauptströmung des Islam und sind mit Ausnahme der arabisch bestimmten Islamischen Gemeinschaft in Deutschland türkisch geprägt. Aber damit ist das Spektrum der in Baden-Württemberg organisierten Muslime noch nicht abgedeckt.
"Und dann kommen natürlich noch Gruppen hinzu aus dem schiitischen Bereich. Da wären Schiiten aus dem Libanon, Hizb Allah-zugehörige Vereine. Dann hätten wir verstreut die Amal-Zugehörigen. Dann aus der Türkei die Aleviten, die sich mehr oder weniger auch dem Islam zurechnen. Und dann zum Beispiel solche Gruppen wie die Ahmadiya, die für orthodoxe Organisationen als Parias gelten, also als Abtrünnige. Letztendlich haben wir aus allen Bereichen, wenn wir noch an die Bruderschaften denken, so ziemlich alle Ausprägungen islamischen Seins. Die wenigsten allerdings sind den Organisationen zuzurechnen. Wenn wir da bei zehn Prozent sind, dann wird das viel sein."
Der Südwesten als Mikrokosmos der islamischen Welt, dieses Bild des Verfassungsschützers dürfte den wenigsten Baden-Württembergern geläufig sein, und doch ist es keine Fata Morgana, kein Trugbild also, sondern Realität, eine Realität mit vielen Seiten, auch Schattenseiten. Die lassen sich freilich erst entdecken, wenn der harte Kern der islamischen Aktivitas, die sogenannten Islamisten unter Beobachtung kommen. Aber auch da kann noch alles mit rechten Dingen zugehen, wie Müller meint.
"Wir gehen davon aus, dass wir es bei aktiven Leuten mit ungefähr ein bis zwei Prozent zu tun haben, die solchen Organisationen angehören. Das Problem ist allerdings, das sind die sichtbarsten, das sind diejenigen, die aktiv sind. Wenn es um Moscheebauten, Unterricht, Schächten, Kopftuchtragen geht, dann können wir davon ausgehen, dass zu großen Teilen wir es dann mit den islamistischen Organisationen zu tun haben, also mit den Organisationen, die nach deutschem Recht hier ganz legal arbeiten und deshalb rechtsfähig hier agieren."
Schwierig wird es erst, wenn es gilt, diese legal tätigen Islamisten von den illegalen, den gewaltbereiten zu unterscheiden. Gleichwohl hat Müller Differenzierungswerkzeug parat.
"Man könnte als Grundregel aufstellen, dass in den Methoden die legal Arbeitenden und die Gewaltbereiten differieren. Allerdings im Ziel, im Aufbau einer muslimischen Gesellschaft im Weltmaßstab, sind sie sich einig. Die einen haben also mehr Geduld, die andern, die zur Gewalt greifen, sind dann diejenigen, die im Hier und Jetzt und zu ihren Lebzeiten zum Ziel kommen wollen. Die anderen sehen eher eine Generationenaufgabe vor sich."
Aber dieses Ziel, egal ob es gewaltlos und geduldig oder gewaltbereit und ungeduldig angegangen wird, ist unvereinbar mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Der Gesellschaftsentwurf der Islamisten sieht einen muslimischen Gottesstaat vor, dem nichts ferner steht als Demokratie und Pluralismus. Entsprechend scharf fällt die antidemokratische Polemik aus, die in islamistischen Medien häufig ist. Hier ein Zitat aus der Kampfschrift Die Kampagne der USA zur Vernichtung des Islam, herausgegeben von der Islamischen Befreiungspartei:
"Da sie Gotteslästerung ist, darf der Muslim die Demokratie nicht akzeptieren. (…) Er muss sie verwerfen und all jenen gegenüber Widerstand leisten, die sie verbreiten."
Die Islamische Befreiungspartei ist einer der zahllosen Ableger der Muslimbruderschaft, die als die 'Mutter' aller sunnitischen Islamistenbewegungen gelten kann. Die Muslimbrüder zählen in Baden-Württemberg an die zweihundert Mitglieder und stehen unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, weil sie dessen Erkenntnissen zufolge auf Gewalt zur Durchsetzung ihres Hauptziels, eine islamisierte Welt, nicht verzichten wollen. Ihr Spross Befreiungspartei hingegen ist bereits seit Anfang 2003 verboten - wegen Mordhetze gegen Juden sowohl in Printmedien als auch im Internet, was Kleingruppen in Stuttgart, Heidelberg und Karlsruhe nicht hindert, aus dem Untergrund immer wieder aktiv zu werden. Von der Islampropaganda zur islamistischen Gewaltpropaganda und zur entsprechenden Gewaltaktion ist oft nur ein kleiner Schritt. Müller ist um Beispiele nicht verlegen.
"Es kann da aufgezeigt werden, dass nicht erst mit dem Ereignis nine-eleven das Problem hier im Land war. Wir hatten ja vorher ja schon die Meliani-Gruppierung. Die sogenannte Meliani-Gruppierung hat im Jahr 2000 versucht, von deutschem Boden aus einen Anschlag in Straßburg in Szene zu setzen. Zwar war der Hauptstützpunkt Frankfurt am Main, allerdings musste man dann feststellen, dass die Spur über Baden-Baden dann nach Straßburg ging, also in der Planung war Baden-Württemberg eingeschlossen."
Der Anschlag wäre um ein Haar geglückt. Er hätte verheerende Folgen gehabt. Angeführt von Mansuri Meliani, hatten vier Islamisten aus dem Umfeld der Salafitischen Gruppe für Predigt und Kampf, einer hauptsächlich in Algerien gegen die dortige Regierung operierenden Terrorgruppe, Furchtbares vor.
Wer den Straßburger Weihnachtsmarkt, den meistbesuchten im Elsaß, kennt, kann sich unschwer ausmalen, welches Blutbad eine Bombenexplosion in der Menschenmenge im Schatten des Münsters verursacht hätte. Das Beispiel zeigt, wie nahe terroristische Umtriebe bereits vor sieben Jahren an Baden-Württemberg herangerückt waren. Aber auch früher schon nützten militante Islamisten den Südwesten als Planungsraum für Anschläge, als Rekrutierungsfeld für 'Glaubenskrieger' und als 'Sammelbüchse' für muslimische Opfer im Kampf mit westlichen und - so die einschlägige Propaganda – mit 'zionistischen Ungläubigen'.
"Wir hatten dann schon Mitte der neunziger Jahre Aktivitäten von Gruppierungen, die in Frankreich unangenehm aufgefallen sind: Flugzeugentführung, Erpressung der französischen Regierung, Bombenanschläge. Da gab es also Zusammenhänge. In Karlsruhe gab es die Verhaftung eines entsprechenden Aktivisten schon 1995. Und während dem Krieg in Bosnien sind Verbindungen auch von dort nach Deutschland und nach Baden-Württemberg festgestellt worden. Also in dieser Hinsicht haben wir mit diesen militanten extremistischen Gruppierungen durchaus unsere Erfahrungen."
Die Frankreich betreffenden terroristischen Aktivitäten, die Müller anspricht, wurzeln im algerischen Islamismus. Dessen gewaltbereiter Flügel - wie schon die erwähnte Meliani-Gruppe - führt offenbar einen Zweifrontenkrieg: zum einen gegen Staat und Regierung Algeriens und zum andern gegen Frankreich, das die Islamisten als Verbündeten des algerischen Regimes ansehen. In diesem Kampf scheint der deutsche Südwesten nicht nur Planungs-, sondern auch Rückzugs- und Ruheraum zu sein. Jedenfalls deuten die genannten Vorfälle wie auch die Präsenz kleiner islamistischer Zellen in diese Richtung. Alles in allem operieren zwischen Main und Bodensee sowohl Salafiten, die sich inzwischen dem Al-Qaida-Netzwerk Usama Bin Ladins angeschlossen haben sollen, als auch eine sogenannte Bewaffnete Islamische Gruppe. Beide sind Abspaltungen der Islamischen Heilsfront, die wiederum aus dem algerischen Zweig der panislamisch wirkenden Muslimbruderschaft hervorgegangen ist.
Da die Heilsfront wie ihre beiden abgespalteten Ableger, die Salafitische Gruppe und die Bewaffnete Islamische Gruppe, in Algerien verboten sind, agieren sie im Untergrund und vom Ausland aus, auch von Baden-Württemberg, wo der jüngste Verfassungsschutzbericht zirka 35 Heilsfront-Mitglieder und einige Einzelkämpfer aus der Salafitischen wie der Bewaffneten Islamischen Gruppe notiert. Damit ist aber das Reservoir islamistischer Untergrundarbeit im 'Musterländle' noch nicht erschöpft. Müller zeigt auf einen weiter weg liegenden Kriegsschauplatz.
"In einem Fall - da kommt allerdings Tschetschenien ins Spiel - sind dann Leute aufgebrochen, um selbst in die Auseinandersetzungen einzugreifen, also als deutsche Bürger oder hier lebende Menschen, in einen Kampf in einem fremden Land einzugreifen."
Die Deutschen und in Deutschland lebenden Ausländer, die 2002 und 2003 in den Kaukasus aufbrachen, um dort am 'heiligen Krieg' gegen die Russen teilzunehmen, zogen von Ulm aus nach Tschetschenien. Nicht von ungefähr von Ulm! Die Stadt an der Donau war zusammen mit ihrer bayerischen Schwesterkommune Neu-Ulm einige Zeit ein deutsches 'Mekka' der Islamisten. Das Neu-Ulmer Multi-Kulturhaus und das Ulmer Islamische Informationszentrum standen für diesen Ruf. Das eine wie das andere waren bis zu ihrer Schließung im Dezember 2005, beziehungsweise der Selbstauflösung vor wenigen Monaten Brückenköpfe des Wahhabismus, jener besonders rigorosen saudischen Variante des sunnitischen Islam. Beide dienten laut Verfassungsschutz als Propagandazentrum und Missionsstation und hatten Erfolg, wie man an den zum Islam bekehrten deutschen 'Glaubenskämpfern' sieht. Die freilich bezahlten für ihre Bekehrung einen hohen Preis. Keiner kam lebend aus dem Kaukasus zurück.
Die beiden Ulmer Einrichtungen haben freilich nicht nur bei Konversion und Rekrutierung von Freiwilligen für islamische Schlachtfelder Basisarbeit geleistet. Auch bei der Inspirierung zum Bombenbasteln auf deutschem Boden scheinen die Proselytenmacher der Donaustadt die Hände im Spiel gehabt zu haben.
"Das ist ein laufendes Verfahren. Da werde ich natürlich keine Weiterungen dazu preisgeben können. Dass es Verbindungen in den Bereich des Multi-Kulturhauses gab und seinen Ablegern ist evident."
Der Stuttgarter Verfassungsschützer hält sich bedeckt. Es geht um jenen spektakulären Fahndungserfolg vom 4. September dieses Jahres, als die sogenannte Sauerland-Gruppe nach monatelanger Observierung durch ein gigantisches Aufgebot an Sicherheitskräften aufflog. Trotz der Verhinderung des Bombenanschlags war schlagartig deutlich geworden, dass die tödliche Gefahr, die von islamistischen Terroristen ausgeht, inzwischen in Baden-Württemberg angekommen war. Schließlich hatten die potentiellen Gewaltmenschen ihren Sprengstoff im Herzen des Landes, in einer Garage in Freudenstadt im Schwarzwald, gelagert. Die Nähe der Bedrohung ist nur die eine Seite der Gefahr. Müller weist noch auf einige andere hin.
"Die Festnahmen der drei jungen Leuten unlängst, die versucht haben, mit entsprechenden Chemikalien Bomben zu bauen, zeigen, dass man es mit Leuten zu tun hat, die offensichtlich hier jetzt aktiv werden wollten. Und das ist angesichts der Möglichkeiten, die sich diesen Gruppierungen bietet, die ja relativ klein sind - drei bis vier Leute genügen, um hier etwas auf die Beine zu stellen. Und große Geldflüsse sind in diesen Zusammenhängen auch nicht unbedingt notwendig, sondern man kann, bescheiden gesagt, es mit Bordmitteln schaffen, gefährliche Apparate herzustellen."
Der Bombenbau in der Wohnküche mit Billigmaterialien aus der Bastelzentrale und dem Supermarkt, dieser Heimwerkerterrorismus stellt die Geheimdienste vor schwer zu bewältigende Aufgaben. Schon der Schlag gegen die Sauerland-Gruppe, wiewohl von einigen Pannen begleitet, gelang nur, weil sowohl die deutschen Nachrichtendienste untereinander als auch die deutschen mit den ausländischen gut zusammenarbeiteten. Müller hält denn auch fest:
"Es zeigt letztendlich, dass wir hier in einem globalen Spektrum arbeiten, dass es auch ohne Unterstützung und Hinweise von außen nicht geht. Also eine deutsche Sicherheitsstruktur kann ohne eine europäische und darüber hinausgehende sich hier nicht hundertprozentig bewähren."
Dass im Fall der Sauerland-Gruppe die Bewährungsprobe bestanden wurde, hatte mit amerikanischen Fingerzeigen zu tun, auch wenn Müller sich diesbezüglich ausschweigt. Sein Hinweis auf die globale Vernetzung des Terrorismus in Allahs Namen macht aber deutlich, wie dringlich die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der westlichen Demokratien gegen diesen gefährlichen Gegner ist. Und er macht erst recht deutlich, wie verhängnisvoll es wäre, wollte man sich in Baden-Württemberg weiterhin in Sicherheit wiegen, weil die Internationale der islamistischen Gewaltverbreitung den deutschen Südwesten eine Zeitlang als Ruheraum nutzte.
"Die Vorbereitung von Anschlägen, also Gruppenbildung, Rekrutierung, Headhunting auf geeignete Leuten, die dann an anderen Stellen der Welt Anschläge verüben sollen, ist für mich nicht gerade mit Ruhe zu vergleichen, sondern mit einer entsprechenden Aktivität. Und in einer globalisierten Welt, wo man sehr schnell per Flugzeug irgendwo hinkommen kann, kann man dann schon gar nicht mehr von 'Ruheraum' sprechen."
Inzwischen ist die 'Ruheraum'-Illusion, gegen die Müller Stellung nimmt, passé. Spätestens seit dem 4. September dämmert es sogar den Berufsoptimisten im Land, dass Baden-Württemberg wie das ganze Bundesgebiet Operationsfeld des islamistischen Terrorismus geworden ist. In der Taubenheimstraße in Stuttgart-Bad-Cannstatt, dem Sitz des Landesverfassungsschutzes, bleibt man trotzdem gelassen und selbstbewußt.
"Die Sicherheitsbehörden geben ja zu erkennen, dass sie mächtig hinter den entsprechenden Strukturen her sind und dass sie versuchen, mögliche Anwandlungen im Keim zu ersticken. Das ist zwar schwierig, aber es ist offensichtlich machbar, wenn man entsprechenden Einsatz bringt. Also letztendlich haben es die möglichen Attentäter mit einer sehr wachen Struktur zu tun, die sich des Problems bewusst ist und die versuchen, mit einem entsprechenden Ansatz, mögliche Täter herauszufiltern. Herausfiltern heißt, dass man nicht davon ausgeht, dass die ganze islamische community hier unter Verdacht steht, sondern, dass sich innerhalb ganz bestimmter Strukturen etwas bilden kann, und dort wird angesetzt. Und in der Vergangenheit hat sich herausgestellt, dass wir an den richtigen Leuten dran waren."
"Nach der Religion wird der Bürger ja gemeinhin nicht befragt. Aber es gibt entsprechende Schätzungen aufgrund von Zahlen, Eigenangaben und so weiter. Wenn man das hochrechnet, können wir mit ungefähr einer halben Million Muslimen in Baden-Württemberg rechnen, ohne aber sagen zu können, wie viele Schiiten, wie viele Sunniten und unterschiedliche Untergruppen damit gemeint sind,"
sagt Herbert Landolin Müller. Der promovierte Islamwissenschaftler und Historiker leitet die Abteilung Islamismus beim baden-württembergischen Verfassungsschutz, eine Expertenmannschaft, die sich weit über die Landesgrenzen in Sachen Islam und Islamismus einen Namen gemacht hat. Und so kann denn auch Müller trotz der vagen Zahlenangabe die muslimische Vielfalt im Südwesten, zumindest was deren Organisationsgrad anlangt, etwas auffächern.
"Gemeinhin ist davon auszugehen, dass nur ein geringer Prozentsatz organisiert ist. Wir haben also unterschiedlich große Organisationen. Die nehmen natürlich alle für ihre jeweiligen Nationalitäten die Hegemonie für sich in Anspruch. Es gibt eine türkisch-staatliche Organisation Ditib. Es gibt die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, ein Beobachtungsobjekt. Es gab bis zum Verbot, organisatorisch präsent, den Kalifatsstaat. Es gibt die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V., also eher eine arabisch orientierte Organisation. Allerdings sind die Strukturen dort umgeändert worden, und man hat es mit mehr oder weniger juristisch vereinzelnden Organisationen zu tun, wo es also schwer ist, die strukturellen Zusammenhänge zu sehen und nachzuweisen."
Die von Müller genannten Gruppen vertreten allesamt die sunnitische Hauptströmung des Islam und sind mit Ausnahme der arabisch bestimmten Islamischen Gemeinschaft in Deutschland türkisch geprägt. Aber damit ist das Spektrum der in Baden-Württemberg organisierten Muslime noch nicht abgedeckt.
"Und dann kommen natürlich noch Gruppen hinzu aus dem schiitischen Bereich. Da wären Schiiten aus dem Libanon, Hizb Allah-zugehörige Vereine. Dann hätten wir verstreut die Amal-Zugehörigen. Dann aus der Türkei die Aleviten, die sich mehr oder weniger auch dem Islam zurechnen. Und dann zum Beispiel solche Gruppen wie die Ahmadiya, die für orthodoxe Organisationen als Parias gelten, also als Abtrünnige. Letztendlich haben wir aus allen Bereichen, wenn wir noch an die Bruderschaften denken, so ziemlich alle Ausprägungen islamischen Seins. Die wenigsten allerdings sind den Organisationen zuzurechnen. Wenn wir da bei zehn Prozent sind, dann wird das viel sein."
Der Südwesten als Mikrokosmos der islamischen Welt, dieses Bild des Verfassungsschützers dürfte den wenigsten Baden-Württembergern geläufig sein, und doch ist es keine Fata Morgana, kein Trugbild also, sondern Realität, eine Realität mit vielen Seiten, auch Schattenseiten. Die lassen sich freilich erst entdecken, wenn der harte Kern der islamischen Aktivitas, die sogenannten Islamisten unter Beobachtung kommen. Aber auch da kann noch alles mit rechten Dingen zugehen, wie Müller meint.
"Wir gehen davon aus, dass wir es bei aktiven Leuten mit ungefähr ein bis zwei Prozent zu tun haben, die solchen Organisationen angehören. Das Problem ist allerdings, das sind die sichtbarsten, das sind diejenigen, die aktiv sind. Wenn es um Moscheebauten, Unterricht, Schächten, Kopftuchtragen geht, dann können wir davon ausgehen, dass zu großen Teilen wir es dann mit den islamistischen Organisationen zu tun haben, also mit den Organisationen, die nach deutschem Recht hier ganz legal arbeiten und deshalb rechtsfähig hier agieren."
Schwierig wird es erst, wenn es gilt, diese legal tätigen Islamisten von den illegalen, den gewaltbereiten zu unterscheiden. Gleichwohl hat Müller Differenzierungswerkzeug parat.
"Man könnte als Grundregel aufstellen, dass in den Methoden die legal Arbeitenden und die Gewaltbereiten differieren. Allerdings im Ziel, im Aufbau einer muslimischen Gesellschaft im Weltmaßstab, sind sie sich einig. Die einen haben also mehr Geduld, die andern, die zur Gewalt greifen, sind dann diejenigen, die im Hier und Jetzt und zu ihren Lebzeiten zum Ziel kommen wollen. Die anderen sehen eher eine Generationenaufgabe vor sich."
Aber dieses Ziel, egal ob es gewaltlos und geduldig oder gewaltbereit und ungeduldig angegangen wird, ist unvereinbar mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Der Gesellschaftsentwurf der Islamisten sieht einen muslimischen Gottesstaat vor, dem nichts ferner steht als Demokratie und Pluralismus. Entsprechend scharf fällt die antidemokratische Polemik aus, die in islamistischen Medien häufig ist. Hier ein Zitat aus der Kampfschrift Die Kampagne der USA zur Vernichtung des Islam, herausgegeben von der Islamischen Befreiungspartei:
"Da sie Gotteslästerung ist, darf der Muslim die Demokratie nicht akzeptieren. (…) Er muss sie verwerfen und all jenen gegenüber Widerstand leisten, die sie verbreiten."
Die Islamische Befreiungspartei ist einer der zahllosen Ableger der Muslimbruderschaft, die als die 'Mutter' aller sunnitischen Islamistenbewegungen gelten kann. Die Muslimbrüder zählen in Baden-Württemberg an die zweihundert Mitglieder und stehen unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, weil sie dessen Erkenntnissen zufolge auf Gewalt zur Durchsetzung ihres Hauptziels, eine islamisierte Welt, nicht verzichten wollen. Ihr Spross Befreiungspartei hingegen ist bereits seit Anfang 2003 verboten - wegen Mordhetze gegen Juden sowohl in Printmedien als auch im Internet, was Kleingruppen in Stuttgart, Heidelberg und Karlsruhe nicht hindert, aus dem Untergrund immer wieder aktiv zu werden. Von der Islampropaganda zur islamistischen Gewaltpropaganda und zur entsprechenden Gewaltaktion ist oft nur ein kleiner Schritt. Müller ist um Beispiele nicht verlegen.
"Es kann da aufgezeigt werden, dass nicht erst mit dem Ereignis nine-eleven das Problem hier im Land war. Wir hatten ja vorher ja schon die Meliani-Gruppierung. Die sogenannte Meliani-Gruppierung hat im Jahr 2000 versucht, von deutschem Boden aus einen Anschlag in Straßburg in Szene zu setzen. Zwar war der Hauptstützpunkt Frankfurt am Main, allerdings musste man dann feststellen, dass die Spur über Baden-Baden dann nach Straßburg ging, also in der Planung war Baden-Württemberg eingeschlossen."
Der Anschlag wäre um ein Haar geglückt. Er hätte verheerende Folgen gehabt. Angeführt von Mansuri Meliani, hatten vier Islamisten aus dem Umfeld der Salafitischen Gruppe für Predigt und Kampf, einer hauptsächlich in Algerien gegen die dortige Regierung operierenden Terrorgruppe, Furchtbares vor.
Wer den Straßburger Weihnachtsmarkt, den meistbesuchten im Elsaß, kennt, kann sich unschwer ausmalen, welches Blutbad eine Bombenexplosion in der Menschenmenge im Schatten des Münsters verursacht hätte. Das Beispiel zeigt, wie nahe terroristische Umtriebe bereits vor sieben Jahren an Baden-Württemberg herangerückt waren. Aber auch früher schon nützten militante Islamisten den Südwesten als Planungsraum für Anschläge, als Rekrutierungsfeld für 'Glaubenskrieger' und als 'Sammelbüchse' für muslimische Opfer im Kampf mit westlichen und - so die einschlägige Propaganda – mit 'zionistischen Ungläubigen'.
"Wir hatten dann schon Mitte der neunziger Jahre Aktivitäten von Gruppierungen, die in Frankreich unangenehm aufgefallen sind: Flugzeugentführung, Erpressung der französischen Regierung, Bombenanschläge. Da gab es also Zusammenhänge. In Karlsruhe gab es die Verhaftung eines entsprechenden Aktivisten schon 1995. Und während dem Krieg in Bosnien sind Verbindungen auch von dort nach Deutschland und nach Baden-Württemberg festgestellt worden. Also in dieser Hinsicht haben wir mit diesen militanten extremistischen Gruppierungen durchaus unsere Erfahrungen."
Die Frankreich betreffenden terroristischen Aktivitäten, die Müller anspricht, wurzeln im algerischen Islamismus. Dessen gewaltbereiter Flügel - wie schon die erwähnte Meliani-Gruppe - führt offenbar einen Zweifrontenkrieg: zum einen gegen Staat und Regierung Algeriens und zum andern gegen Frankreich, das die Islamisten als Verbündeten des algerischen Regimes ansehen. In diesem Kampf scheint der deutsche Südwesten nicht nur Planungs-, sondern auch Rückzugs- und Ruheraum zu sein. Jedenfalls deuten die genannten Vorfälle wie auch die Präsenz kleiner islamistischer Zellen in diese Richtung. Alles in allem operieren zwischen Main und Bodensee sowohl Salafiten, die sich inzwischen dem Al-Qaida-Netzwerk Usama Bin Ladins angeschlossen haben sollen, als auch eine sogenannte Bewaffnete Islamische Gruppe. Beide sind Abspaltungen der Islamischen Heilsfront, die wiederum aus dem algerischen Zweig der panislamisch wirkenden Muslimbruderschaft hervorgegangen ist.
Da die Heilsfront wie ihre beiden abgespalteten Ableger, die Salafitische Gruppe und die Bewaffnete Islamische Gruppe, in Algerien verboten sind, agieren sie im Untergrund und vom Ausland aus, auch von Baden-Württemberg, wo der jüngste Verfassungsschutzbericht zirka 35 Heilsfront-Mitglieder und einige Einzelkämpfer aus der Salafitischen wie der Bewaffneten Islamischen Gruppe notiert. Damit ist aber das Reservoir islamistischer Untergrundarbeit im 'Musterländle' noch nicht erschöpft. Müller zeigt auf einen weiter weg liegenden Kriegsschauplatz.
"In einem Fall - da kommt allerdings Tschetschenien ins Spiel - sind dann Leute aufgebrochen, um selbst in die Auseinandersetzungen einzugreifen, also als deutsche Bürger oder hier lebende Menschen, in einen Kampf in einem fremden Land einzugreifen."
Die Deutschen und in Deutschland lebenden Ausländer, die 2002 und 2003 in den Kaukasus aufbrachen, um dort am 'heiligen Krieg' gegen die Russen teilzunehmen, zogen von Ulm aus nach Tschetschenien. Nicht von ungefähr von Ulm! Die Stadt an der Donau war zusammen mit ihrer bayerischen Schwesterkommune Neu-Ulm einige Zeit ein deutsches 'Mekka' der Islamisten. Das Neu-Ulmer Multi-Kulturhaus und das Ulmer Islamische Informationszentrum standen für diesen Ruf. Das eine wie das andere waren bis zu ihrer Schließung im Dezember 2005, beziehungsweise der Selbstauflösung vor wenigen Monaten Brückenköpfe des Wahhabismus, jener besonders rigorosen saudischen Variante des sunnitischen Islam. Beide dienten laut Verfassungsschutz als Propagandazentrum und Missionsstation und hatten Erfolg, wie man an den zum Islam bekehrten deutschen 'Glaubenskämpfern' sieht. Die freilich bezahlten für ihre Bekehrung einen hohen Preis. Keiner kam lebend aus dem Kaukasus zurück.
Die beiden Ulmer Einrichtungen haben freilich nicht nur bei Konversion und Rekrutierung von Freiwilligen für islamische Schlachtfelder Basisarbeit geleistet. Auch bei der Inspirierung zum Bombenbasteln auf deutschem Boden scheinen die Proselytenmacher der Donaustadt die Hände im Spiel gehabt zu haben.
"Das ist ein laufendes Verfahren. Da werde ich natürlich keine Weiterungen dazu preisgeben können. Dass es Verbindungen in den Bereich des Multi-Kulturhauses gab und seinen Ablegern ist evident."
Der Stuttgarter Verfassungsschützer hält sich bedeckt. Es geht um jenen spektakulären Fahndungserfolg vom 4. September dieses Jahres, als die sogenannte Sauerland-Gruppe nach monatelanger Observierung durch ein gigantisches Aufgebot an Sicherheitskräften aufflog. Trotz der Verhinderung des Bombenanschlags war schlagartig deutlich geworden, dass die tödliche Gefahr, die von islamistischen Terroristen ausgeht, inzwischen in Baden-Württemberg angekommen war. Schließlich hatten die potentiellen Gewaltmenschen ihren Sprengstoff im Herzen des Landes, in einer Garage in Freudenstadt im Schwarzwald, gelagert. Die Nähe der Bedrohung ist nur die eine Seite der Gefahr. Müller weist noch auf einige andere hin.
"Die Festnahmen der drei jungen Leuten unlängst, die versucht haben, mit entsprechenden Chemikalien Bomben zu bauen, zeigen, dass man es mit Leuten zu tun hat, die offensichtlich hier jetzt aktiv werden wollten. Und das ist angesichts der Möglichkeiten, die sich diesen Gruppierungen bietet, die ja relativ klein sind - drei bis vier Leute genügen, um hier etwas auf die Beine zu stellen. Und große Geldflüsse sind in diesen Zusammenhängen auch nicht unbedingt notwendig, sondern man kann, bescheiden gesagt, es mit Bordmitteln schaffen, gefährliche Apparate herzustellen."
Der Bombenbau in der Wohnküche mit Billigmaterialien aus der Bastelzentrale und dem Supermarkt, dieser Heimwerkerterrorismus stellt die Geheimdienste vor schwer zu bewältigende Aufgaben. Schon der Schlag gegen die Sauerland-Gruppe, wiewohl von einigen Pannen begleitet, gelang nur, weil sowohl die deutschen Nachrichtendienste untereinander als auch die deutschen mit den ausländischen gut zusammenarbeiteten. Müller hält denn auch fest:
"Es zeigt letztendlich, dass wir hier in einem globalen Spektrum arbeiten, dass es auch ohne Unterstützung und Hinweise von außen nicht geht. Also eine deutsche Sicherheitsstruktur kann ohne eine europäische und darüber hinausgehende sich hier nicht hundertprozentig bewähren."
Dass im Fall der Sauerland-Gruppe die Bewährungsprobe bestanden wurde, hatte mit amerikanischen Fingerzeigen zu tun, auch wenn Müller sich diesbezüglich ausschweigt. Sein Hinweis auf die globale Vernetzung des Terrorismus in Allahs Namen macht aber deutlich, wie dringlich die sicherheitspolitische Zusammenarbeit der westlichen Demokratien gegen diesen gefährlichen Gegner ist. Und er macht erst recht deutlich, wie verhängnisvoll es wäre, wollte man sich in Baden-Württemberg weiterhin in Sicherheit wiegen, weil die Internationale der islamistischen Gewaltverbreitung den deutschen Südwesten eine Zeitlang als Ruheraum nutzte.
"Die Vorbereitung von Anschlägen, also Gruppenbildung, Rekrutierung, Headhunting auf geeignete Leuten, die dann an anderen Stellen der Welt Anschläge verüben sollen, ist für mich nicht gerade mit Ruhe zu vergleichen, sondern mit einer entsprechenden Aktivität. Und in einer globalisierten Welt, wo man sehr schnell per Flugzeug irgendwo hinkommen kann, kann man dann schon gar nicht mehr von 'Ruheraum' sprechen."
Inzwischen ist die 'Ruheraum'-Illusion, gegen die Müller Stellung nimmt, passé. Spätestens seit dem 4. September dämmert es sogar den Berufsoptimisten im Land, dass Baden-Württemberg wie das ganze Bundesgebiet Operationsfeld des islamistischen Terrorismus geworden ist. In der Taubenheimstraße in Stuttgart-Bad-Cannstatt, dem Sitz des Landesverfassungsschutzes, bleibt man trotzdem gelassen und selbstbewußt.
"Die Sicherheitsbehörden geben ja zu erkennen, dass sie mächtig hinter den entsprechenden Strukturen her sind und dass sie versuchen, mögliche Anwandlungen im Keim zu ersticken. Das ist zwar schwierig, aber es ist offensichtlich machbar, wenn man entsprechenden Einsatz bringt. Also letztendlich haben es die möglichen Attentäter mit einer sehr wachen Struktur zu tun, die sich des Problems bewusst ist und die versuchen, mit einem entsprechenden Ansatz, mögliche Täter herauszufiltern. Herausfiltern heißt, dass man nicht davon ausgeht, dass die ganze islamische community hier unter Verdacht steht, sondern, dass sich innerhalb ganz bestimmter Strukturen etwas bilden kann, und dort wird angesetzt. Und in der Vergangenheit hat sich herausgestellt, dass wir an den richtigen Leuten dran waren."