Vom Retten vor dem Bösen zum modernen Diakoniebetrieb

Von Joachim Hildebrandt |
Das Evangelische Johannisstift zählt zu den ältesten diakonischen Einrichtungen in Berlin und den neuen Bundesländern. Die Stiftung wurde am 25. April 1858 von Johann Hinrich Wichern gegründet mit dem Auftrag, dass Arme, Kranke, Gefangene und Kinder Hilfe bekommen. Sitz der Stiftung ist seit 1910 das 75 Hektar große Gemeinwesen in Berlin-Spandau. Johann Hinrich Wichern wurde am 21. April 1808 geboren, also vor 200 Jahren.
„Das evangelische Johannisstift ist heute in fünf verschiedenen Arbeitsfeldern tätig, hauptsächlich in der Altenhilfe, Behindertenhilfe, Jugendhilfe, in der diakonischen Ausbildung, und wir sind bemüht, auch Menschen, die in den Arbeitsprozessen nicht eingegliedert werden können, eine Beschäftigung zu ermöglichen.“

Martin von Essen ist Vorsteher des Evangelischen Johannisstifts in Berlin. Gegründet wurde die Einrichtung vor 150 Jahren von Johann Hinrich Wichern. Es war die letzte Großtat des Gründers der Inneren Mission und Begründers der organisierten Evangelischen Sozialarbeit. Er starb am 7. April 1881 und hinterließ neun Kinder.

„Wenn wir heute von Wichern reden, dann fällt mir ein, dass er die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen damals eigentlich erfunden hat, vor christlichem Hintergrund. Er hat das Gruppenprinzip, das Familienprinzip eingeführt, um Kindern zu helfen, damals hieß es ja, um Kinder zu retten und heute haben wir dieses Prinzip der Begleitung, der Betreuung von Kindern aus schwierigen.“

Verhältnissen, immer noch nach dem Wichernschen Familienprinzip, weil es den Kindern hilft, weil es ihnen Zukunft gibt, weil es sie stabil macht.

Wolfgang Kern, Leiter der Kommunikationsabteilung im Johannisstift. Monika Heinrichsen ist Erzieherin im Johannisstift und betreut in einer ausgelagerten Wohngemeinschaft Kinder drogenabhängiger Eltern.

„Ich lebe mit drei Kindern in einem Einfamilienhaus außerhalb des Johannisstifts, das heißt, ich habe in dem Haus genauso ein Zimmer wie die Kinder haben. Wir teilen uns die Küche, wir teilen uns das Bad und wir teilen uns den Alltag, der nur unterbrochen wird von den Besuchen der Eltern, die, soweit es geht und soweit es möglich ist, mit in den Gruppenalltag eingeschlossen werden. Mein Ziel ist, die Kinder nicht von den Eltern zu trennen, sondern sie eine andere Ebene mit den Eltern finden zu lassen.“

Die Kinder werden durch Jugendamtsbeschluss aus der Familie herausgenommen. Bisweilen wird den Eltern das Sorgerecht entzogen. Für Johann Hinrich Wichern bestand die Lösung des Problems zunächst in der Trennung der Jugendlichen vom Milieu. Ein christlicher Erzieher soll die Eltern vertreten und die Jugendlichen führen. Wichern nannte das: die Kinder „retten“.

Das Wort kommt aus der Erweckungsbewegung mit einer Einteilung in Gut und Böse, christlich und heidnisch, Gott und Welt. Diesem Dualismus folgend, wollte Wichern zweierlei, dem Missionsauftrag folgen und praktische Nächstenliebe üben. In seiner Sprache hieß das: die Kindern sollen das Heil erlangen. Die Erzieher müssen versuchen, sie vor der Verdammnis zu retten.

„Ja, dieses Heil und Verdammnis – ich bin froh, dass das in meinem Kopf nicht mehr vorhanden ist und auch nicht in meinem Herzen mehr. Wir haben die Kinder dort abzuholen, wo sie gerade stehen und nehmen sie dann mit, nehmen sie mit auch in unserem Glauben. Wenn ich in die Kirche gehe, gehen die Kinder natürlich mit, denn sie haben oft nicht viele Möglichkeiten, nein zu sagen. Mit der Zeit, habe ich gefunden, finden sie Spaß dran.

Also retten, so sehe ich meine Arbeit nicht mehr. Ich möchte die Kinder stark machen. Dass sie dort leben können, wo sie herkommen, viele gehen auch einfach wieder zurück, weil, das sind Gebiete, die sie kennen, aber dann sollen sie stark sein, sich zu wehren, dort auch leben zu können.“

Und wo bleibt der Wichern’sche Missionsauftrag, die Kinder also zu Gott zu bekehren?

„Nein, ich möchte nicht die Kinder zum lieben Gott bekehren. Ich möchte sie mitnehmen und wenn sie dann zusammen mit mir ‚dort‘ bleiben, dann finde ich das gut, finde ich das schön, und ich werde nicht aufhören, sie mitzunehmen und darüber zu reden.“

Und Grenzen setzen. Denn im Verständnis der Johannisstift-Erzieherin sind klare Maßnahmen notwendig, zum Beispiel, wenn Kinder und Jugendliche die Schule schwänzen.

„Nicht zur Schule zu gehen, bedeutet für den Tag kein Taschengeld zu bekommen. Wenn ich einen Tag nicht arbeiten gehe, bekomme ich auch kein Geld. Ich würde das nicht Strafe nennen, ich würde es Konsequenzen nennen, die aus einem Verhalten entstehen, das in unserer Gesellschaft nicht als richtig angesehen wird. Man kann nicht einfach klauen gehen, da muss es Konsequenzen geben.“

Für Wichern ist Erziehung ein anderes Wort für „Rettung“. Er stellt dafür drei Grundsätze auf. In der christlichen Erziehung soll die Religion das Fundament, aber nicht die einzige Sache sein. Glaube und Leben sind nicht zu trennen, erklärt Wichern.

Zweiter Grundsatz: „Die christliche Erziehung achtet in jedem Kind dessen Persönlichkeit und Eigentümlichkeit, behandelt das Kind auch demgemäß.“ Wichern verweist zum Beispiel auf die Temperamentenlehre, dass es Phlegmatiker, Choleriker, Sanguiniker und Melancholiker gibt. Und drittens, was Strafen betrifft, der Erzieher dürfe „christliche Zucht“ anwenden, aber auch Belohnung, damit das Kind Gnade und Sünde erkenne.

„Wichern wollte, dass die Hilfe, in der die Liebe von Gott zu dem Menschen zum Ausdruck kommt, ganz selbstverständlich passiert, ohne große Worte. Deshalb sind Vorbilder in der Erziehung wichtig. Es ist nicht wichtig, dass man viele Worte darüber verliert, sondern das tut, was hilft. Daraus können Kinder und Jugendliche eine Menge lernen. Das ist, denke ich, auch, wo christliche Erziehung zum Ausdruck kommt, nicht nur immer vom lieben Gott reden und fromme Floskeln zu sprechen. Nein, es ist vielleicht die Achtung vor dem Essen. Achtung im Umgang miteinander, fair sein, es ist, wenn man einen Fehler gemacht hat, dazu zu stehen und daraus zu lernen. Für mich ist das eine Erziehung, in dem der Geist Wicherns zum Ausdruck kommt.“

Kirche und Diakonie – das war zu Wicherns Zeiten ein zentrales Thema und führte letztlich zur Gründung der Inneren Mission, der heutigen Diakonie. Wichern hatte bedeutenden Anteil an der Gründung des Rauhen Hauses in Hamburg im Jahre 1833, das als Model für Erziehungsanstalten diente. Als Ausbildungsstätte für Diakone wurden karitative Einrichtungen geschaffen. Später dann die Evangelische Schule für Volksmusik gegründet, aus der die Berliner Kirchenmusikschule hervorging. Der Wichern Verlag zog ins Johannisstift.

Heute zu einem diakonischen Unternehmen umstrukturiert, ist das Johannisstift bei knapp werdenden finanziellen Mitteln dem Wettbewerb ausgesetzt und muss auch dem Dienstleistungscharakter gerecht werden.

„Johann Hinrich Wichern gilt als sogenannter Vater der Diakonie. Er hat mehrere bedeutende Impulse der Kirche und der Diakonie gegeben. Eines seiner wichtigsten Anliegen war – als er gerade in Hamburg, wo er zuerst lebte, in den Elendsvierteln sah, unter welchen Bedingungen damals so viele Kinder völlig verarmt, einsam, verwaist auf der Straße lebten – dieses angesehene Elend war für ihn Anlass, ein ‚Rettungshaus‘, wie er es nannte, zu gründen, wo solche Kinder aufgefangen werden.“

„Wicherns bleibende Spuren finden wir heute in der Ausbildung von Diakoninnen und Diakonen. Diese Ausbildung geht direkt auf Johann Hinrich Wichern zurück. Er hat sie erfunden, weil er Menschen brauchte, damals Männer, Gehilfen, die ihn in seiner Idee, seiner Mission unterstützten. Tatkräftige Männer, die mitten im Leben standen, die wussten, wovon sie reden und was sie taten. Sie sollten auch noch etwas verstehen von der Liebe Gottes zu den Menschen. Dazu gab es noch eine Zurüstung.
Hier werden inzwischen auch Frauen zu Diakoninnen ausgebildet, mit dem gleichen Ziel, Menschen zu helfen. Was das Johannisstift noch im Hinblick auf Wichern prägt, das ist der Geist, der uns dazu anhält, dem Menschen konkret zu helfen, weil Gott uns Menschen liebt: älteren Menschen, die bedürftig sind, Menschen mit Behinderung, Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, Hilfe und Begleitung brauchen.“

Wichern nannte das so, als Leitspruch für das Evangelische Johannisstift: „Lasst uns nicht lieben in Zungen, mit Worten, sondern mit der Tat.“