Vom Onkel verraten

Susanne Schädlich im Gespräch mit Ulrike Timm · 02.03.2009
In der DDR war Karlheinz Schädlich ein angesehener Historiker. 1992 wurde bekannt, dass er für die Stasi seinen eigenen Bruder und dessen Familien bespitzelt hatte. Im Dezember 2007 beging er Selbstmord, ohne sich jemals für sein Verhalten gerechtfertigt zu haben. Seine Nichte Susanne Schädlich hat sich in ihrem Buch "Immer wieder Dezember" mit der Familiengeschichte befasst und beklagt eine "gewisse Nötigung zur Vergebung in der Gesellschaft".
Ulrike Timm: Das war ein sehr öffentlicher Selbstmord, der damals ausführlich durch die Presse ging, denn auch Karlheinz Schädlich, der Spitzel, war in der DDR ein sehr bekannter Mann. Susanne Schädlich, die Tochter des Schriftstellers Hans Joachim und die Nichte von Karl-Heinz Schädlich hat diese Familiengeschichte zwischen Vertrauen und Verrat aufgeschrieben, "Immer wieder Dezember – der Westen, die Stasi, der Onkel und ich", so heißt ihr Buch, und Susanne Schädlich ist jetzt unser Gast hier im "Radiofeuilleton". Schönen guten Tag!

Susanne Schädlich: Schönen guten Tag!

Timm: Frau Schädlich, wie haben Sie davon erfahren, dass Ihr Onkel der Spitzel war?

Schädlich: Ich war 1992 in Los Angeles, dort habe ich gelebt. Mich erreichte dort am 29. Januar ein Anruf von meiner Mutter, die mir sagte: "Setz Dich hin, ich muss dir etwas sagen." Und in dem Anruf erzählte sie mir von der Tatsache, dass mein Vater meinen Onkel in den Akten entdeckt hatte.

Timm: Und da mussten Sie sich erst mal hinsetzen?

Schädlich: Ich habe gesessen, bevor sie’s mir sagte, und dann musste ich weinen und fand eigentlich keine Worte.

Timm: Der Deckname Ihres Onkels war IM Schäfer, und Sie schreiben dazu: "So war er, der Wolf, der sich Schäfer nannte, und sich als Hirte tarnte." Das ist ein Satz von fast biblischer Wucht, mit dem Sie Ihren Onkel beschreiben, denn Sie haben ihm sogar ganz besonders vertraut. Er war, selbst als Sie schon im Westen waren mit Ihrer Familie, so was wie ein zweiter Vater für Sie. Wie das?

Schädlich: Also ich war dann ab 84 alleine in Berlin, meine Mutter und meine Schwester waren nach Düsseldorf gezogen, meine Mutter musste das tun aus beruflichen Gründen. Mein Vater lebte mit einer anderen Lebensgefährtin. Ich hatte mein Abitur gemacht, und er war mein Vertrauter und lockte mich sozusagen zurück in die DDR, weil ich den Wunsch hatte, Schneiderin zu lernen bzw. Kostümbildnerin, fand aber keine Lehrstelle. Und so flüsterte er mir über Wochen und Monate ein, dass das auch möglich wäre in der DDR, bis er mich dazu brachte, einen Brief an den Oberbürgermeister nach Ostberlin zu schreiben mit der Bitte darum. Und ich landete aber nicht beim Oberbürgermeister, sondern eben bei der Staatssicherheit.

Timm: Das heißt, ein Mensch, den Sie liebten, der hat Ihnen eine Falle gestellt?

Schädlich: Ja, sozusagen.

Timm: Es wäre viel Zeit gewesen für Ihren Onkel, sich zumindest zu erklären bis zur IM-Enttarnung 1992, dann noch mal 15 Jahre bis zu seinem Selbstmord. Ist das Ihr Hauptvorwurf, dass er nicht mal den Versuch machte, für sich einzustehen, mit welcher Begründung auch immer?

Schädlich: Also Vorwurf will ich gar nicht sagen, es ist einfach eine Tatsache, die ich beschreibe, dass er es nicht getan hat. Der Vorwurf geht eher an die, die uns nötigen wollen zu vergeben oder Nachsicht zu zeigen dem Onkel gegenüber, der es ja uns angetan hat und aber dabei vergessen, dass es um ausgleichende Gerechtigkeit gehen muss, wenn man verzeiht. Und er hat diesen Schritt eben nie getan, an uns heranzutreten und sich zu erklären.

Timm: Das heißt, die Sachlage wäre für Sie ganz anders, wenn er irgendwann zu Ihnen gekommen wäre und gesagt hätte, das ist passiert. Die Größe hat er nicht gehabt?

Schädlich: Nein.

Timm: Und die Zusammenarbeit wurde erst beendet – ich schieb’s mal ein – im Dezember 89 wegen Perspektivlosigkeit, da war die Mauer längst gefallen, und da beendete Karlheinz Schädlich seine Tätigkeit als IM. Susanne Schädlich, Sie selber haben ihn, Ihren Onkel, aber auch nie daraufhin angesprochen. Warum nicht? Sie hätten ihm doch auch Ihre Wut und Ihre Verletzung vor die Füße knallen können?

Schädlich: Ja, ich habe dazu sozusagen nicht die Kraft gehabt nach der Verletzung, die er uns zugefügt hatte. Und wie gesagt, ich habe eben darauf gewartet, dass er kommt. Das war die Voraussetzung letztlich für mich, ein Gespräch zu beginnen – wenn überhaupt.

Timm: Also gab es einen schalltoten Raum über 15 Jahre?

Schädlich: Ja, kann man so sagen.

Timm: Karlheinz Schädlich war Historiker an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin, und er war in der DDR eine schillernde Figur. Er war hoch gebildet, anglophil, sehr charmant, und nach seinem Selbstmord wurde er von einer Zeitung als "IM Gentleman" tituliert. Diese Formulierung hat Sie, wenn ich es richtig weiß, sehr aufgebracht. Warum?

Schädlich: Na, wie ich schon sagte, anscheinend existiert eine gewisse Nötigung zur Vergebung in der Gesellschaft, und was mich natürlich aufregt, ist die Verharmlosung der IMs oder überhaupt der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes. Entweder es wird amüsant dargestellt oder eben als Gutmenschen, IM-Onkels, die eigentlich im Grunde niemandem geschadet haben, und so war es eben nicht.

Timm: Und in seinem Selbstmord sehen Sie einen sehr offiziellen und sehr lauten Tod?

Schädlich: Ja, beinahe martialisch, würde ich sagen.

Timm: Frau Schädlich, 20 Jahre Wende, in diesem Jahr kann man am Erinnern gar nicht vorbeikommen, bis zum November wird das noch inflationär zunehmen. "Der Osten in mir", so hieß gerade am Wochenende eine große Beilage in der "TAZ". Wie stehen Sie zu solchen mitunter auch nostalgischen Gefühlen?

Schädlich: Nun, solange diese Nostalgie nicht politisiert oder instrumentalisiert wird für politische Zwecke, denke ich, kann man ihr gar nicht ausweichen. Jeder schaut in seine Vergangenheit zurück, die, die die DDR erlebt haben, die in zwei Systemen aufgewachsen sind, so wie ich, also einmal in der DDR, dann in der Bundesrepublik, die ihren Platz finden mussten in einer fremden Welt, dass die eine gewisse verklärte Erinnerung haben, und das, was vergangen ist, das ist zu verstehen, denke ich, und niemandem zu verübeln.

Timm: Dann frage ich mit der "TAZ" zurück: Wie viel Osten ist heute in Ihnen?

Schädlich: Das kann ich gar nicht richtig beantworten. Also ich glaube, weniger. Ich wohne zwar dort und ich stehe dieser Nostalgiewelle sehr kritisch gegenüber. Und ich beobachte alles sehr genau, ich lese viel. Aber das Osten, was in mir ist, sind ein paar Erinnerungen an die Großmutter, also an die Großmama, und an das, was uns früher zusammengehalten hat, an die Schriftstellertreffen, also eben an das, was uns bewegt hat persönlich, aber nicht, ja …

Timm: Sie haben zwölf Jahre in der DDR gelebt, sind dann als Kind 1977 mit Ihrer gesamten Familie ausgereist. Zehn Jahre Bundesrepublik, an wechselnden Orten, großes Durcheinander. Dann Amerika, auch zur Selbstfindung, gut zehn Jahre, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.

Schädlich: Elf.

Timm: Elf sogar. Wie hat Sie dieses Hin und Her geprägt?

Schädlich: Dieses Hin und Her im Westen?

Timm: Nein, an so vielen Orten groß zu werden, an so vielen Orten sich immer wieder neu einfühlen zu müssen, sich neu einzufinden und dann auch immer wieder wegzugehen?

Schädlich: Ja, es hat, glaube ich, mir die Fähigkeit gegeben, sich schneller von Orten lösen zu können. Orte sind flüchtig, man bindet sich nicht mehr so sehr an Orte. Eher an Menschen, die einem wichtig geworden sind. Und da sind dann auch Entfernungen letztlich egal, denn man kann den Kontakt halten. Und es erweitert natürlich ungemein den Horizont, wenn man drei Zuhause sozusagen in sich trägt und die vereint dann sozusagen ein Ganzes ergeben – Amerika, DDR, Bundesrepublik.

Timm: Sie sind 87 in die USA gegangen, haben dort auch von den Spitzeleien Ihres Onkels erfahren. Warum war Amerika für Sie so wichtig, warum mussten Sie weg?

Schädlich: Ich habe gedacht, ich muss so weit wie möglich weg, um diese beiden Systeme, na ja, nicht aus mir herauszubringen, aber irgendwie unter einen Hut zu kriegen. Im Westen kam ich nie wirklich an, ich habe mich fremd gefühlt. In Amerika war ich Fremde, aber wurde als Fremde gar nicht mehr so wahrgenommen. Also es war einfacher sozusagen, in Amerika eine Fremde zu sein, als in der Bundesrepublik, als aus der DDR, Deutsche zu sein, weil man zwar dieselbe Sprache sprach, aber nicht verstanden wurde damals.

Timm: Und in den USA waren Sie einfach Deutsche, nach Ost und West wurde nicht aufgefächert?

Schädlich: Genau, so war das. Und außerdem waren sowieso viele andere Fremde um einen herum, aus aller Herren Länder, und das war normal.

Timm: Wo sind Sie heute zu Hause?

Schädlich: Ich lebe heute in Berlin, dort ist mein derzeitiges Zuhause, ansonsten in der Sprache …

Timm: "Immer wieder Dezember", so heißt Ihr Buch, über das wir gesprochen haben, das Ihre Familiengeschichte beschreibt, Ihr Erwachsenwerden und die Spitzelgeschichte, die Sie erlebt haben. Ist diese Geschichte für Sie damit abgeschlossen oder wird sie Ihr ganzes Leben weiter prägen?

Schädlich: Ich denke, sie wird mich weiter bewegen, weil man sich immer wieder die Frage stellt, warum hat er das getan, warum hat er es denen angetan, die ihn so liebten und die ihm vertraut haben. Wie er dazu kam, also wie Karlheinz Schädlich überhaupt dazu kam, es richtigzustellen auch mal gegenüber den Darstellungen in der Presse, dass er eben kein Opfer des Systems war und all das, also etwas dagegenzusetzen, das ist abgeschlossen. Aber persönlich wird es nie abgeschlossen sein.

Timm: Susanne Schädlich, die Tochter des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, im Gespräch mit dem "Radiofeuilleton". Ihr Buch heißt "Immer wieder Dezember", weil irgendwie alle wichtigen Termine auf den Dezember fielen in ihrem Leben. "Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich", ist erschienen im Droemer-Verlag und eine sehr aufwühlende, aber, wie ich finde, eine wertvolle Lektüre. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch!

Schädlich: Ich danke Ihnen!